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  • Dr. Felicitas Witte
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  • 07.03.2008

Hyposensibilisierung hilft Insektengiftallergikern

Insektengiftallergikern stellen sich die Nackenhaare auf, wenn sie von einer Wespe oder Biene umsurrt werden. Denn bei einem Stich drohen ihnen unter Umständen lebensbedrohliche Symptome. Mit einer Systemischen Immuntherapie (SIT) lässt sich dieses Risiko effektiv senken. Wer eine SIT durchführen sollte, welche Verfahren und Nebenwirkungen es gibt und wie sich der Erfolg der SIT messen lässt, erfahren Sie hier.

Das Risiko steigt

Mediziner, die zum ersten Mal systemisch auf einen Wespenstich reagieren, empfinden dies oft als "aha-Erlebnis". Endlich versteht man, was der Patient bei einem allergischen Schock oder Prä-Schock empfindet. Etwa fünf Prozent der Kinder und zehn Prozent der Erwachsenen, bei denen einmal ein Wespenstich eine starke Lokalreaktion hervorgerufen hatte, reagieren bei einem nächsten Stich systemisch: Sie entwickeln eine Urticaria, bekommen Juckreiz am ganzen Körper, der Blutdruck fällt und die Herzfrequenz steigt. Im schlimmsten Fall kommt es zum allergischen Schock.

Hat ein Mensch schon einmal systemisch auf einen Wespenstich reagiert, ist das Risiko deutlich höher, dass er bei einem nächsten Wespenstich wieder so reagiert: Bei Kindern steigt das Risiko auf 30 Prozent und bei Erwachsenen auf 70. Die Allergie wird durch spezifische IgE-Antikörper vermittelt. Bei etwas 25 Prozent der Deutschen lassen sich IgE-Antikörper gegen Wespen- oder Bienengift im Blut nachweisen. Eine klinisch manifeste Allergie liegt dabei allerdings selten vor.

Ob ein Mensch tatsächlich eine Allergie hat, lässt sich mit verschiedenen Tests nachweisen: In der Allergologie werden die spezifischen IgE-Antikörper im Serum bestimmt. Das Gift wird dann in steigenden Konzentrationen unter die Haut gespritzt um zu sehen, ab welcher Dosis der Patient reagiert. Dies erfolgt unter Aufsicht, denn jederzeit könnte der Patient allergisch reagieren. Vor der Testung legt der Allergologe deshalb einen Zugang, um im Notfall sofort Antihistaminika, Cortison oder Adrenalin spritzen zu können. Bei fraglichen Befunden werden noch zusätzliche Tests durchgeführt:

 

Kreuzallergien

Bei jedem Patienten mit Bienen- oder Wespenallergie werden gleichzeitig die IgE-Antikörper auf das jeweils andere Gift bestimmt. Manche Menschen, die gegen Wespengift allergisch sind, sind auch gegen das Gift von Hornissen allergisch. Welcher Wespengiftallergiker auch auf Hornissen reagiert, hängt davon ab, gegen welches Allergen der Wespenallergiker sensibilisiert ist. Alle Hornissengiftallergiker sind automatisch auch gegen Wespengift allergisch. Dasselbe gilt für Bienen und Hummeln: Menschen, die gegen Bienengift allergisch sind, reagieren auch allergisch auf einen Hummelstich und umgekehrt.

Ist die Diagnose "Wespenallergie" gesichert, stellt sich die Frage: Will der Patient damit leben oder nicht? Damit leben heißt, dass seine Herzfrequenz möglicherweise sofort steigt, sobald ihn die Kommilitonen zu einem Brunch im August oder einem Grillnachmittag an einem lauen Frühherbsttag einladen. Denn dann haben Wespen Hochsaison: Sie lieben selbstgemachte Marmelade oder setzen sich gerne auf den Rand von Gläsern mit süßen Getränken wie Bowle, Cola oder Orangensaft. Mit der Allergie leben heißt, ständig auf der Hut zu sein, um nicht gestochen zu werden und für den Notfall ständig das Notfall-Set mit Medikamenten dabei zu haben. Sinnvoll ist es auch, Freunde und Bekannte über die Allergie zu informieren, damit diese nicht völlig entsetzt sind, wenn man auf einmal die Adrenalinspritze aus dem Notfall-Set holt und sie sich in den Oberschenkel rammt. Menschen mit einer starken Wespenallergie, die ein hohes Risiko haben, beim nächsten Stich (wieder) mit einem Schock zu reagieren, können ihren Körper an das Wespengift gewöhnen. Dies nennt man Hyposensibilisierung oder spezifische Immuntherapie (SIT).

 

Sehr effektiv: Spezifische Immuntherapie

Die Hyposensibilisierung oder spezifische Immuntherapie (SIT) bei Bienen- oder Wespenallergie ist eine sehr effektive Maßnahme. Wird eine SIT konsequent durchgeführt, sinkt das oben beschriebene Risiko für eine systemische Reaktion auf zehn Prozent. Und diese sind meist nicht mehr so stark wie vorher.

Wer sollte sich hyposensibilisieren lassen? Im Prinzip kann jeder Mensch mit einer schweren Wespenallergie hyposensibilisiert werden. Da die Erfolgsrate so hoch ist, empfehlen Allergologen die SIT mehr Menschen als beispielsweise bei einer Allergie gegen Inhalationsallergene, bei der die Erfolgsrate deutlich niedriger ist: Je nachdem, wie das Allergen bei der Hyposensibilisierung appliziert wird - also z.B. subkutan oder sublingual, wie alt die Patienten zu Beginn der Hyposensibilisierungsbehandlung sind und je nachdem, wie "Erfolg" definiert wird (Besserung der Symptome oder vollständiges Verschwinden der Symptome) beträgt die Erfolgsrate hier nur 30 bis knapp 70 Prozent.

Bei einer nierigen Erfolgsrate ist möglicherweise der Schaden durch eine SIT größer als der Nutzen. So würden Allergieexperten Menschen mit einer Pollenallergie, die älter sind oder Begleiterkrankungen haben wie kardiovaskuläre Krankheiten, Asthma oder Mastozytose eher von einer SIT abraten, während sich Wespenallergiker mit diesen Begleiterkrankungen durchaus hyposensibilisieren lassen könnten.

Eine wichtige Rolle spielt darüber hinaus der Beruf: Bestimmten Berufsgruppen, die viel mit Wespen in Kontakt kommen, wie Obstverkäufer oder Bäckereiangestellte, Müllmänner oder Imker, empfiehlt man eine SIT bei Allergie. Kinder unter fünf bis sechs Jahren werden nicht hyposensibilisiert. Aus Studien weiß man, dass die Reaktionen auf weitere Stiche auch ohne eine SIT milder verlaufen. Menschen mit starken Hautreaktionen ohne weitere Symptome werden nie desensibilisiert - erst bei sehr schweren Hautreaktionen oder wenn weitere Risikofaktoren vorliegen.

 

Durchführung der SIT

 

Die Hyposensibilisierung besteht aus zwei Phasen:

Die Einleitungsphase kann nach drei Zeitplänen erfolgen:

In Deutschland wird die SIT in der Regel nach dem Rush- oder Ultrarush-Protokoll durchgeführt.

Beim Rush-Verfahren erhält der Patient vier Injektionen am ersten Tag, vier am zweiten, drei am dritten und dann jeweils eine an den Tagen vier, acht und fünfzehn. Danach wird zunächst wöchentlich, dann alle zwei, später alle drei Wochen gespritzt. Während der ersten Spritzen, also ungefähr eine Woche, bleibt der Patient unter stationärer Beobachtung im Krankenhaus. Pflegepersonal und Ärzte kontrollieren regelmäßig Blutdruck und Herzfrequenz und fragen den Patienten nach seinem Wohlbefinden.

Beim Ultrarush-Verfahren injiziert der Allergologe sechs oder sieben Spritzen an einem Tag - je nachdem, wie gut der Patient die Hyposensibilisierung verträgt. Während dieser Zeit werden die Kreislaufparameter ebenfalls ständig kontrolliert. Wenn es dem Allergiker gut geht, kann er an dem Abend nach Hause gehen.

 

Zwischenfälle sind sehr selten

"Wir wenden in der Schweiz hauptsächlich das Ultrarush-Verfahren an.", erzählt Dr. Kathrin Scherer, Oberärztin in der Allergologie am Universitätsspital Basel. "Dies liegt vor allem daran, dass wir genügend Personal zur Verfügung stellen." Der Erfolg der beiden Verfahren hätte sich in Studien als gleichwertig erwiesen. "Unsere Hyposensibilisierungs-Patienten werden in der medizinischen Tagesklinik betreut. Dort ist ständig ein Arzt und erfahrenes Pflegepersonal da, die sich um den Patienten kümmern." An Personal hapere es in vielen deutschen Allergologie-Kliniken. Die Beobachtung durch Arzt und Pfleger ist extrem wichtig, denn bei jeder Hyposensibilisierung kann der Patient allergisch reagieren und einen Schock bekommen.

Die Frage von Ultrarush versus Rush-Therapie entscheide sich allerdings nicht nur am Personal - wobei das schon entscheidend sei - sondern auch an der Möglichkeit der Intensivüberwachung bzw. der Tagesklinik. Nach Angaben von Dr. Scherer sagen einige Autoren, das Risiko sei im Ultrarush-Verfahren höher als im Rush-Verfahren. Es gebe aber auch Daten, dass genau das Gegenteil der Fall sein könnte. Das ändert allerdings nichts an der Tatsache, dass in jedem Fall eine intensive Ueberwachung notwendig ist.

Zwischenfälle sind bei einer SIT glücklicherweise sehr selten: Nach Berechnungen des Paul-Ehrlich-Institutes traten zwischen 1991 und 2000 bei einer Hyposensibilisierung bei 0,002 bis 0,008 Prozent der Patienten lebensbedrohliche Reaktionen auf, wenn nicht modifizierte Extrakte verwendet wurden und bei 0,005 bis 0,01 Prozent, wenn ein Semidepotpräparat injiziert wurde.

Während der Therapie dürfen die Patienten keine Betablocker einnehmen - auch nicht als Augenmedikamente. Denn durch die Betablocker ist das Risiko für schwere systemische Reaktionen deutlich erhöht und Adrenalin kann als Therapeutikum wegen der Betablockade nicht so gut wirken. Ob ACE-Hemmer oder AT1-Blocker bei einer SIT mit Wespengift kontraindiziert sind, wird in der Literatur kontrovers diskutiert.

 

Nebenwirkungen

Jede Therapie hat neben den erwünschten auch unerwünschte Wirkungen. Die Haut an der Einstichstelle kann stark anschwellen und nach einer gewissen Zeit äußerst unangenehm jucken. Gegen Schwellung und Juckreiz helfen Kälte und Antihistaminika: Vor und nach jeder Injektion erhält der Patient ein Kühlpack, das mit einem Verband fest um den Oberarm gewickelt wird. Zusätzlich kann der Patient ein Antihistaminikum einnehmen. Dies hat möglicherweise noch einen anderen positiven Effekt: "Studien weisen darauf hin, dass eine SIT erfolgreicher sein könnte, wenn der Patient 30 bis 60 Minuten vor der Injektion ein Antihistaminikum einnimmt.", weiß Allergologin Scherer. Außerdem würde dadurch das Risiko für eine systemische Reaktion gesenkt werden. Allerdings können die Antihistaminika auch Symptome einer allergischen Reaktion maskieren.

Ab in die Biergärten?

Kann man nun als Ex-Wespenallergiker frohen Mutes wieder in die Biergärten gehen oder muss man immer noch ständig Angst vor jedem gelb-schwarzen Flugobjekt haben? Ob eine SIT erfolgreich war, weiß man eigentlich erst dann, wenn man noch einmal gestochen wird. Doch wer lässt sich schon gerne freiwillig stechen? Einige Patienten in der Scheiz scheinen es genau wissen zu wollen: Am Zieglerspital in Bern können sie sich von einer Wespe stechen lassen - natürlich unter ärztlicher Aufsicht. Diese so genannten Stichprovokation wird sechs bis zwölf Monate nach der Einleitungsphase durchgeführt. Ob so ein Provokationsstich sinnvoll ist, ist fraglich. "Wenn man auf den Stich allergisch reagiert, weiß man, dass die SIT nicht erfolgreich war.", erklärt Dr. Scherer. "Aber wenn man nicht allergisch reagiert, weiß man gar nichts. Denn beim nächsten Stich kann der Patient durchaus allergisch reagieren."

Die Allergologin forscht daher nach anderen Möglichkeiten, den Erfolg der SIT zu messen. "Man kann testen, ob der Patient IgG-Antikörper gebildet hat.", so die Allergologin. "Dieser "switch" von IgE zu IgG zeigt, dass die bei der Wespenallergie gestörte Immunreaktion sich wieder normalisiert hat." Inzwischen weiß man, dass viele andere Immunzellen und Immunprozesse eine Rolle bei der SIT spielen: Es entstehen IgE-modulierende TCD8-Zellen, die Anzahl von Mastzellen und Eosinophilen nimmt ab und es werden weniger Mediatoren ausgeschüttet. TCD4-Helferzellen produzieren weniger Interleukin 4 und 5, gleichzeitig wird mehr Gamma-Interferon hergestellt. Neuerdings weiß man, dass bestimmte T-Zellen, so genannte T-regulatorische Zellen, einen Wachstumsfaktor beta und Interleukin 10 herstellen. Diese regulatorischen Zellen scheinen besonders wichtig zu sein für den Erfolg einer Hyposensibilisierung: Vermutlich verhindern die regulatorischen T-Zellen, dass das allergisierende IgE produziert wird und regen gleichzeitig die Herstellung von IgG und IgA an.

Auch wenn die SIT erfolgreich war: Ein Notfall-Set sollten auch hyposensibilisierte Wespenallergiker immer dabei haben. Allerdings können sie in Zukunft viel entspannter den Sommer genießen. Das Risiko, dass sie bei einem nächsten Stich systemisch reagieren, ist mit zehn Prozent deutlich geringer als vorher. Und wenn sie reagieren, ist die Reaktion meist milder. Die Notfallmedikamente werden daher meistens nicht gebraucht. Trotzdem sollte man auf das Verfallsdatum achten und die Medikamente regelmäßig erneuern.

 

Quellen:

Literaturtipp:

Grevers, Röcken: Taschenatlas Allergologie; Georg Thieme Verlag

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