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  • Inge Wünnenberg | TR
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  • 20.11.2018

Heilung per Virus

Tom Patterson starb beinahe an multiresistenten Keimen. In letzter Sekunde rettete ihn eine Therapie mit Viren. Sie könnte der Durchbruch im Kampf gegen Erreger sein, bei denen kein Antibiotikum hilft.

Tom Patterson war sterbenskrank. Er lag monatelang im Koma. Auf der Intensivstation im Krankenhaus der University of California in San Diego konnte ihm im Frühjahr 2016 nichts mehr helfen – jedenfalls kein
Antibiotikum. Seine Organe begannen zu versagen. Denn sowohl sein Blut als auch sein Bauchraum waren
befallen von dem vielfach resistenten Erreger Acinetobacter baumannii. Der auch als „Iraqibacter“ bekannte Keim erhielt diesen Spitznamen, weil er während des Irakkriegs bei vielen Soldaten für schlecht heilende Wunden sorgte. Patterson hatte sich während eines Urlaubs in Ägypten Ende 2015 eine Variante davon eingefangen. Nach seiner Rückkehr in die kalifornische Heimat stellte sich heraus, dass sie gegen sämtliche Antibiotika, auch die sogenannten Reserve-Antibiotika, resistent war. Aber Patterson hatte enormes Glück. Seine Frau Steffanie Strathdee ist Leiterin des Global Health Institute der Uni in San Diego, und sie hatte von einer Therapie gehört, die in solchen Fällen Wunder wirken kann: Viren, und zwar eine Variante, die ausschließlich Bakterien befällt – sogenannte Bakteriophagen.

Bereits vor gut hundert Jahren entdeckt, bergen sie ein ungeheures Potenzial für den Kampf gegen bakterielle Infektionen. Denn die Phagen, die nicht aus sehr viel mehr als ihrem Erbmaterial und einer Hülle drum herum bestehen, sind jeweils auf bestimmte Bakterien spezialisiert. Ihre sogenannte lytische Variante (siehe Grafik) dringt in die Zellen ein und bringt den Wirt dazu, so viele neue Phagen zu produzieren, bis er am Ende platzt und eingeht.

Für Patterson schien eine Phagentherapie die letzte Chance auf Rettung zu sein. Das Problem war nur: Sie ist in den Vereinigten Staaten und Westeuropa nahezu unerprobt, eine generelle behördliche Zulassung gibt es nicht. Strathdee setzte zusammen mit dem behandelnden Arzt Robert Schooley, einem Spezialisten für Infektionskrankheiten, alle Hebel in Bewegung, um ausnahmsweise die Erlaubnis zu erhalten. Zum Glück reagierte die amerikanische Forscher-Community schnell. Während sich die US-Zulassungsbehörde FDA beeilte, eine Sondergenehmigung zu erteilen, stellten Wissenschaftler aus allen Teilen des Landes bereits geeignete Phagen bereit.

Die erste Ration gelangte über Schläuche in den Bauchraum, die nächste wurde ihm intravenös verabreicht. „Das Risiko eines septischen Schocks war groß“, sagt Strathdee, „aber nach drei Tagen schlug er die Augen auf.“ Inzwischen ist der 71-jährige Psychologe, der sich selbst als Wissenschaftler der Erforschung des Aids-Virus gewidmet hat, fast vollständig genesen. Pattersons Fall beflügelte in den USA die weitgehend brachliegende Forschung zum medizinischen Einsatz von Phagen. „Viren werden zu unseren besten Verbündeten gegen Bakterien werden“, prophezeit er.
Allein in den USA sterben jedes Jahr rund 23 000 Menschen aufgrund von nicht behandelbaren bakteriellen Infektionen. Dafür verantwortlich ist oft eine der zwölf multiresistenten Bakterienfamilien, die auf der schwarzen Liste der Weltgesundheitsorganisation WHO versammelt sind. Trotzdem konnten die Mediziner aus San Diego seit Pattersons Heilung nicht mehr als eine Handvoll tödlich erkrankter Menschen mittels FDASondererlaubnis behandeln. Strathdee will nun dafür sorgen, dass es nicht dabei bleibt. Seit dem Sommer leitet die Epidemiologin für Infektionskrankheiten gemeinsam mit Robert Schooley das neu gegründete Center for Innovative Phage Applications and Therapeutics (IPATH) an der University of California in San Diego. Dort will Strathdee endlich jene klinischen Studien starten, die am Ende allen Patienten eine Phagentherapie ermöglichen. Kürzlich kürte das „Time Magazine“ Strathdee sogar für das Jahr 2018 zu einem der 50 einflussreichsten Amerikaner auf dem Gesundheitssektor. Auch für Carl Merril war Pattersons Geschichte ein Wendepunkt: Seit den 1960er-Jahren hatte er sich für die National Institutes of Health mit Phagen beschäftigt. Als es um die Therapie des todkranken Professors ging, war er schon längst im Ruhestand, steuerte aber seine Expertise bei. Nach dem Heilerfolg gründete er mit seinem Sohn Adaptive Phage Therapeutics (APT). Mit dem Start-up will er individualisierte Therapien à la Patterson entwickeln: Nach einer schnellstmöglichen Analyse der bakteriellen Infektion des Patienten soll eine speziell
zusammengestellte Kombination zügig auf den Weg gebracht werden. Deshalb will APT keine einzelnen Phagen oder Mixturen, sondern gleich die ganze Sammlung, die sogenannte Phage-Bank, von der FDA genehmigen lassen. Zurückgreifen kann das Unternehmen auf umfangreiches Material der Navy. Das US-Militär hatte die Phagen-Bibliothek für eigene Zwecke angelegt, 2016 aber beschlossen, sie in den Dienst der Öffentlichkeit zu stellen – auch das als Reaktion auf Pattersons Heilung.
Ein Konkurrent, das Unternehmen AmpliPhi Biosciences aus San Diego, will sich sogar an erste Studien wagen. Die FDA gestattete ihm diesen Herbst, zwei Phagentherapeutika zu testen. Das erste soll Infektionen mit Staphylococcus aureus eindämmen, und zwar vor allem, wenn das Blut oder Gelenkprothesen betroffen sind. Das zweite ist gegen Pseudomonas aeruginosa gerichtet, das etwa Lungenentzündung auslöst. 2019 sollen die randomisierten kontrollierten Studien beginnen. „Das werden die ersten uns bekannten Studien mit einer intravenös verabreichten Phagentherapie sein“, sagt Geschäftsführer Paul Grint.

Keine Frage, im Westen steht ein Durchbruch der Phagentherapien an. Vor allem ein Aspekt elektrisierte die Mediziner: Im Fall von Patterson hatten die Phagen multiresistente Bakterien dazu gebracht, wieder eine gewisse Sensibilität den Antibiotika gegenüber zu entwickeln. Die Keime hatten auf den neuen Selektionsdruck reagiert, sich mit Genveränderungen angepasst– dabei aber augenscheinlich den Schutz vor antibakteriellen Medikamenten fallen lassen. „Wir haben dies mittlerweile in mehreren Fällen beobachtet“, berichtet Strathdee. Für die IPAHCo-Direktorin besitzen diese Phagen deshalb das Potenzial zum Game Changer. „Mit diesen Therapien können wir Antibiotika wieder auferstehen lassen“, sagt Strathdee.
In diese Richtung forschen auch Paul Turner vom Department of Ecology and Evolutionary Biology an der Yale University und sein Kollege Benjamin Chan. Beide hatten 2016 zunächst im Labor gezeigt, dass ein Phage namens ONKO1 das multiresistente Bakterium Pseudomonas aeruginosa wieder für Antibiotika empfänglich macht. Als Ali Khodadoust, ein Augenarzt aus Connecticut, lebensgefährlich an dem Erreger erkrankte, bot sich die Möglichkeit, die Therapie an einem Patienten zu testen. Tatsächlich: Sie war ein Erfolg. Auch die Behandlung einer 22 Jahre alten Mukoviszidose-Patientin im Herbst 2017 glückte. Zwar beseitigte der Phagen-Mix bei ihr nicht alle Infektionsherde restlos. Das ist allerdings der Natur dieser schwer therapierbaren Erbkrankheit geschuldet.

Warum aber überhaupt den Umweg über Antibiotika gehen? Warum Bakterien nicht allein mit Phagen bekämpfen? Mit dieser Idee nahm die Geschichte schließlich ihren Anfang. 1915 entdeckte der Engländer Frederick Twort die Phagen, erforschte sie aber nicht weiter. So war es Félix d’Herelle, der sich ab 1917 die wissenschaftlichen Lorbeeren verdiente. Er war es auch, der in den folgenden Jahren erste Therapien für Cholera und Pest entwickelte. Später avancierte der gebürtige Pariser zum Vater der osteuropäischen Phagentradition. Auf Stalins Initiative hin gründete d’Herelle 1936 im georgischen Tiflis gemeinsam
mit seinem Freund Georgi Eliava das bis heute weltweit bekannte Eliava-Institut. Seither werden die Viren in Georgien oder Polen genutzt. Die Behandlung überdauerte – im Gegensatz zum Westen – selbst die Erfindung des Antibiotikums. Martin Witzenrath, Internist an der Berliner Charité, glaubt, der Erfolg der Phagentherapien sei dort auch im Mangel an anderen antibakteriellen Medikamenten begründet gewesen.
Nun wollen deutsche Forscher mit ihrem Projekt „Phage4 - Cure“ diese Tradition auf den neuesten medizinischen Stand bringen. Denn die in Osteuropa gehandelten Cocktails würden hiesigen Ansprüchen nicht gerecht. „Die Phagen sind kaum charakterisiert und nicht sequenziert. Daher weiß man nicht, ob sie Resistenzgene übertragen können“, berichtet Witzenrath, der maßgeblich an Phage4Cure beteiligt ist. Vor allem aber seien die verabreichten Lösungen nicht sauber, sondern könnten noch Bestandteile jener Bakterien enthalten, in denen die Phagen gezüchtet wurden.
Relevante Nebenwirkungen hält Witzenrath dennoch für unwahrscheinlich. Auch die FDA entschied bereits vor zehn Jahren, Phagen grundsätzlich als „sicher“ einzustufen. Schließlich sind sie biologisch gesehen die am meisten verbreiteten Organismen auf dem Planeten, und der Mensch beherbergt noch mehr von dieser Spezies, als er Bakterien mit sich herumträgt. Wären Phagen für den Menschen gefährlich, wäre das längst bekannt.
Dennoch sind die Forscher vorsichtig. „Für eine Zulassung in Deutschland kommen wir nicht umhin, die Toxikologie zu prüfen“, meint Witzenrath. Genauso unumgänglich sei ein Wirksamkeitsnachweis für die Phagentherapien, der bisher noch nie erfolgt sei. Es gebe zwar jede Menge Fallbeispiele, „doch Case-Reports allein reichen hierzulande nicht“, so Witzenrath. Phage4Cure soll diese Hindernisse überwinden. Vier Institutionen haben sich dafür zusammengeschlossen, neben der Berliner Charité auch die Charité Research Organisation, die Deutsche Sammlung von Mikroorganismen und Zellkulturen (DSMZ) sowie das Fraunhofer-Institut für Toxikologie und Experimentelle Medizin (ITEM). Das Ziel ist vergleichbar mit dem
Vorhaben des US-Start-ups Adaptive Phage Therapeutics: Es soll eine Art Plattform für die Herstellung von Phagen-Arzneien entstehen. Der Prozess soll standardisiert werden, sodass er mit nur geringen Veränderungen auch auf andere Phagen übertragbar sein wird. Am Ende sollen zugelassene Therapien stehen. Jahrelang sei das hierzulande undenkbar gewesen, räumt Witzenrath ein. Inzwischen sei der politische Druck aber sehr groß, etwas gegen die resistenten Bakterien zu unternehmen: „Ich bin äußert optimistisch, was die Phagentherapien betrifft.“

Der Patient soll immer eine Kombination von mehreren auf das gleiche Bakterium spezialisierten Phagen erhalten. Damit verhindern die Mediziner, dass sich bei dem Bakterium eine Resistenz gegen eine einzelne Phagen-Variante entwickelt und dadurch die Heilung verhindert. „Es handelt sich immer um individuelle Therapien“, sagt Christine Rohde von der Arbeitsgruppe Plasmide und Phagen der DSMZ über die Anwendungen. Jedes Mal müsse konkret abgeklärt werden, welches Bakterium exakt beteiligt sei, um entsprechend passende Phagen verabreichen zu können.
Voraussetzung ist dafür eine umfassende Phagensammlung, an der die DSMZ schon seit 30 Jahren arbeitet. Um die Bakterienkiller zu finden, durchsuchen die Forscher bevorzugt Kläranlagen und jede Art von Gewässern. „Da spielt uns die Natur in die Hand“, sagt Rohde. Inzwischen umfasst der Bestand 800
Bakteriophagen – darunter auch solche gegen die gefürchteten zwölf multiresistenten Keime der WHO-Liste.
„Nun stehen wir vor der ersten deutschen klinischen Studie mit Phagenanwendung“, freut sich die Expertin. 2020 will Witzenrath an der Charité die ersten Patienten rekrutieren, um zu testen, ob sich die Therapie bei Lungenentzündungen eignet, die durch Pseudomonas aeruginosa verursacht wurden. In einigen Jahren könnte es dann endlich so weit sein, dass auch hierzulande die ersten Phagentherapien zugelassen werden.


Dieser Artikel stammt aus der Technology Review 12/2018
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