Zurück zu Berlin
  • Artikel
  • |
  • Christine Zeides
  • |
  • 08.04.2016

Das Lebendige im Toten erkennen – über die Geschichte der Anatomie

Schon immer interessierte sich der Mensch dafür, wie der Körper von innen aussieht. Doch wann gab er diesem Wissensdrang zum ersten Mal nach?

© kmiragaya-Fotolia.com


Eine der wohl prägendsten Erfahrungen im Medizinstudium ist, mit Skalpell und Pinzette im hellen Präpariersaal zu stehen, den geöffneten Körper eines echten, einst lebenden Menschen vor sich zu sehen, selbst Schnitte zu setzen, mit denen die Strukturen in ihm zum Vorschein kommen. Schicht für Schicht all das zu erkunden, was sonst im Verborgenen bleibt.

Doch wann gab der Mensch diesem Wissensdrang zum ersten Mal nach? Wann entdeckte die Wissenschaft die „Zergliederungskunst“ für sich? Schon die Ägypter eigneten sich Kenntnisse über den menschlichen Körper an, um die sterblichen Überreste ihrer Ahnen mit hoher Kunstfertigkeit einzubalsamieren. Alte Papyrusschriften legen nahe, dass man aus Wunden, Pulsstößen und elementaren chirurgischen Therapien weitere Rückschlüsse auf das Innere zog. Die Ehrfurcht vor dem Leichnam schloss eine wissenschaftliche Sektion jedoch aus.

Auch die alten Griechen bevorzugten die empirische Herangehensweise. Weil der Aufbau des Körpers aber allein durch Theorie nicht zu verstehen ist, versuchte Aristoteles sich durch Tiersektionen ein Bild zu verschaffen – durch die Ähnlichkeiten der Wirbeltiere untereinander wollte er so auf den Menschen schließen. Es blieb jedoch bei Vermutungen. Erst der ägyptische Herrscher Ptolemaios der I. eröffnete durch seine liberale und wissenschaftsfreundliche Gesinnung neue Möglichkeiten für die neugierigen Anatomen.

Herophilos von Chalkedon führte die erste wissenschaftliche Obduktion an Strafgefangenen durch - die Anatomie im eigentlichen Sinne war geboren. Er etablierte eine Nomenklatur der inneren Organe und untersuchte sie anatomisch - Bauchspeicheldrüse, Hirnhaut und Eileiter wurden erstmals in seinen Aufzeichnungen erwähnt. Kursierende Gerüchte über angebliche Vivisektionen (Anm. Redaktion: Eingriff am Lebenden zu Forschungszwecken) zeigen deutlich, wie groß die kollektive Angst der Bevölkerung vor dieser neuen Wissenschaft war – die frühen Anatomen wurden als gewissenlose Metzger inszeniert. Doch die Neugierde blieb.

Mit dem jungen Galenos von Pergamon begann ein neues Kapitel der Anatomie, das die Medizin der folgenden Jahrhunderte maßgeblich beeinflussen sollte. Durch seine ärztliche Tätigkeit als Gladiatorenarzt leitete er aus den gesehenen Wunden Kenntnisse über Muskelverläufe, Gefäße und Gelenke ab. Als Erbe hinterließ er eine weitreichende Zusammenfassung des bisherigen Wissens und Ergebnisse eigener Forschungen im berühmten Methodus medendi. Und so erstarrte die Anatomie – man hielt den menschlichen Organismus für ausreichend untersucht.

Zwar wurden im Mittelalter die Sektionen nicht verboten und gehörten zur Ausbildung junger Mediziner - doch diese beruhten nicht auf der eigenhändigen Präparation. Stattdessen führte der Lehrmeister die Schnitte selbst vor, während die Lernenden einer Vorlesung der galenischen Manuskripte lauschten. Der Präparationskurs sollten den Studenten nicht das selber „sehen“ lehren, sondern Galens Behauptungen bestätigen. Niemand stellte sie in Frage.

Nur dem flämischen Studenten Andreas Vesalius fiel 1530 auf, dass die Strukturen der Leichen nicht recht zu den Aufzeichnungen des großen Vorbilds passen wollten. Dass es sich dabei lediglich um abweichende „Missbildungen des menschlichen Körpers“ handeln solle, wollte Vesalius nicht glauben. Kurzerhand sezierte er heimlich selbst. In den Folgejahren erarbeitete er so einen bebilderten Katalog De humani corporis fabrica libri septem mit detaillierten Skelett- und Muskeldarstellungen, die Galens Erkenntnisse widersprachen.

Es stellte sich heraus, dass Galen aus Mangel menschlicher Leichen auf Tiersektionen ausgewichen war – jahrelang hatte man den unzulässigen Fehlschluss von Tier- zu Menschenanatomie geglaubt. Die Anatomie erlebte eine Revolution und blühte auf. Jetzt entstanden in Zusammenarbeit mit Künstlern anatomische Abbildungen von hoher wissenschaftlicher wie künstlerischer Qualität.

Mit der Gründung anatomischer Theater vermittelte man das neue Wissen auch an Laien. Dank neuer Präparationstechniken konnte man die erstellten Präparate beständig konservieren. Hatte man vorher noch mit Whiskey, Honig und Quecksilber experimentiert, ermöglichte die Entdeckung des Formaldehyds eine beinahe unendliche Aufbewahrung. Bis heute hat die Sektion nicht an Bedeutung und Faszination verloren. Hier sind die Organe mehr als die idealisierten Abbildungen aus dem Atlas - hier erst werden Beschreibungen lebendig. 

Aus dem Toten schließt man auf das Lebende und erschafft in Gedanken ein vollständiges Bild des Körperinneren. Der Arzt betrachtet den Patienten und erkennt in ihm all die natürlichen Strukturen und Zusammenhänge wieder. Erst dieses Wissen ermöglicht ihm, die individuelle Ursache für Krankheiten zu erkennen. So dienen die Toten den Lebenden – und wir Studenten können ihnen nur dankbar dafür sein.

 

Mehr zum Thema

Artikel: Wie viel Praxis findet sich im Modellstudiengang wirklich?

Artikel: Das erste Semester Medizinstudium: Synapsen, Sonografien und Segen

Artikel: Die Lehrformate an der Charité

Schlagworte