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  • Reportage
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  • Dr. med. Felicitas Witte
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  • 28.03.2007

Brennpunkt Genitalverstümmelung

Pro Tag werden weltweit etwa 6.000 Mädchen beschnitten. Der häufigste Grund: tief verwurzelte Traditionen. Unter der Genitalverstümmelung leiden die Frauen ihr ganzes Leben. Auch in Deutschland werden mit zunehmender Zahl der Migrantinnen immer mehr Mediziner mit dem Thema konfrontiert. Mehr als sonst in der Medizin sind Behutsamkeit und Einfühlungsvermögen gefordert.

Fatima hat ein neues Kleid an, sie durfte sich satt essen und eine Fanta trinken - eine Seltenheit in dem kleinen Dorf in der Danakilwüste in Äthiopien. Das Mädchen lacht. In der Hütte ist es schwül und heiß. Plötzlich sieht Fatima, was unter dem Tuch auf dem Tisch verborgen war: Rasierklinge, Nadel, Faden und die Dornen. Ihr Lachen erstirbt. Schon halten vier Erwachsene mit stählernem Griff das wie um sein Leben strampelnde und schreiende Mädchen fest. Sie grätschen ihre Beine, die Beschneiderin setzt die Klinge an, schneidet mit raschem Schnitt die Klitoris heraus, dann die Schamlippen. Zum Schluss presst sie einen Lappen mit Zitronensaft auf die stark blutende Wunde. Fatima wird ohnmächtig. Die Beschneiderin verschließt die Wunde mit Akaziendornen und bindet die Beine zur Blutstillung fest zusammen.

 

Copyrights TARGET-Nehberg/Weber

 

"Als ich zum ersten Mal bei einer Genitalverstümmelung dabei war, dachte ich nur eines: Wie kann man ein kleines Kind so grausam foltern?", erinnert sich Annette Weber von der Organisation TARGET (siehe unten). "Ich habe mich so hilflos gefühlt." Zusammen mit Rüdiger Nehberg kämpft die ehemalige Arzthelferin seit über fünf Jahren gegen Genitalverstümmelung. Inzwischen hat sie mehrere Verstümmelungen von kleinen Mädchen gesehen. Mehr als einmal spürte sie den Drang, der Beschneiderin das Mädchen zu entreißen und mit ihm zu fliehen.

 

Infibulation: nur noch eine winzige Öffnung

Die Verstümmelung der weiblichen Genitalien (female genital mutilation, FGM) wird häufig beschönigend als "weibliche Zirkumzision" beschrieben. Mit dem vergleichsweise harmlosen, komplikationsarmen Eingriff bei Männern hat die FGM jedoch wenig gemeinsam. In den meisten Ländern wird die FGM von speziell ausgebildeten Frauen, den Beschneiderinnen, durchgeführt.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) unterscheidet vier Formen der weiblichen Genitalverstümmelung:

Beim Typ I, der "harmlosesten" Form, entfernt die Beschneiderin die Vorhaut der Klitoris und die Klitoris teilweise oder komplett.

Beim Typ II werden die Klitoris und die kleinen Schamlippen teilweise oder komplett exzidiert.

Vor allem im Sudan und in Eritrea wird die extremste Form praktiziert: die so genannte Infibulation (Fibula = Schilfrohr) oder pharaonische Beschneidung. Die äußeren Genitale werden dabei teilweise oder komplett entfernt und die Vaginalöffnung verengt und zugenäht.

Typ IV bezeichnet alle nicht näher klassifizierbaren Eingriffe an der Vagina wie Durchbohren, Durchlöchern, Einschneiden oder Dehnung von Klitoris oder Schamlippen. Auch Ausbrennen der Klitoris und des umliegenden Gewebes, Abschaben oder Einschneiden des Gewebes um die Vaginalöffnung herum gehören dazu, genauso wie das Einführen von Ätzmitteln oder Kräutern, die Blutungen oder eine Verengung der Vagina bewirken.

In etwa 80 Prozent der Genitalverstümmelungen werden Klitoris und die kleinen Schamlippen herausgeschnitten, eine Infibulation wird in etwa 15 Prozent der Fälle durchgeführt. Oft ist eine Beschneidung keiner eindeutigen Klasse zuzuordnen. Meistens werden die Mädchen zwischen vier und acht Jahren beschnitten. Manche Mütter möchten ihren Töchtern ersparen, die grauenvollen Qualen bewußt zu erleben, und lassen sie im Alter von vier Wochen beschneiden.

 

Gravierende Folgen für Körper und Seele

Die gesundheitlichen Konsequenzen der Verstümmelung für die Mädchen sind enorm: Die unerträglichen Schmerzen müssen die Mädchen ohne Schmerzmittel ertragen. Viele Kinder werden ohnmächtig oder erleiden einen Schock. Die Wunden bluten sehr stark und können sich infizieren. Nicht wenige Mädchen sterben an der Beschneidung.

Überleben sie den Eingriff, kann es später zu Abszessen, wulstigen Narben oder Geschwüren im Genitalbereich kommen. Bei manchen Mädchen ist die Harnöffnung so zugewachsen, dass sie nicht mehr urinieren können. Nach einigen Wochen sterben diese dann einen qualvollen Tod durch Harnstau und Harnvergiftung.

Der Tod der Mädchen wird jedoch nie im Zusammenhang mit der Beschneidung selbst gesehen. Immer liegt es an den Rahmenbedingungen: Entweder wurde das Mädchen zu früh oder zu spät zur Beschneiderin gebracht, die Mutter hat das Kind nicht richtig gehalten oder es selbst ist schuld. Manche Mädchen sprechen wochenlang nach der Verstümmelung nicht mehr. "Die Kinder müssen damit alleine klar kommen", erzählt Annette Weber. "Die Mütter helfen ihnen wenig, über den körperlichen und psychischen Schaden hinwegzukommen."

 

Infibulierte Frauen leiden ein ganzes Leben unter ihrer Verstümmelung:

Durch das Vernähen der Vagina ist die Harnöffnung so eingeengt, dass jedes Wasserlassen 20-30 Minuten oder länger dauert. Zwischen Vagina und Darm können sich Fisteln bilden, die mit einem hohen Infektionsrisiko verbunden sind. Bei einer FGM vom Grad III dauert die Menstruation häufig ein bis zwei Wochen.

Die Hochzeit wird für viele Frauen zur Tortur: Bei dem Volk der Afar in Äthiopien muss der Ehemann in der Hochzeitsnacht versuchen, die winzige Öffnung mit seinem Penis zu öffnen. Gelingt ihm dies nicht, öffnet er seine Frau mit dem Messer. Im Sudan gibt es spezielle "Hochzeitshotels" auf dem Lande, weitab von den Dörfern, damit man das Schreien der Frauen in der Hochzeitsnacht nicht hört. In manchen Völkern werden die Frauen vor der Hochzeit zu Beschneiderinnen geschickt, die die Vaginalöffnung für den Geschlechtsverkehr erweitern. Häufig wachsen die Wunden mit Narben wieder zu.

Vor der Geburt eines Kindes wird die Frau wiederum "geöffnet", um eine vaginale Entbindung zu ermöglichen - eine Sectio ist auf dem Lande meist undenkbar. Nach der Geburt wird die Scheidenöffnung zugenäht, um beim nächsten Kind wieder geöffnet zu werden. "Diese ,Reißverschlussmentalität' ist entwürdigend", kommentiert die Gynäkologin Dr. Sabine Müller aus Berlin, die vor allem Migrantinnen aus Afrika betreut. "Eine meiner Patientinnen wurde 14 Mal aufgeschnitten und wieder zugenäht."

 

6.000 Mädchen in Deutschland gefährdet

Zwischen 100 und 140 Millionen Mädchen und Frauen sind weltweit an den Genitalien verstümmelt. Jedes Jahr laufen weitere zwei Millionen Mädchen Gefahr, beschnitten zu werden. Die FGM wird fast überall auf der Welt durchgeführt, am häufigsten in 28 afrikanischen Ländern, aber auch im Nahen Osten: Vereinigte Arabische Emirate, Oman, Jemen und in Asien: Indonesien, Malaysia, Indien. Durch die zunehmende Anzahl von Migrantinnen werden immer mehr Gynäkologen in Europa, Australien, Kanada und den USA mit dem Thema konfrontiert. Nach Angaben der Hilfsorganisation Terre des Femmes (siehe unten) leben in Deutschland mindestens 24.000 Frauen und Mädchen, die beschnitten sind. Ungefähr 6.000 Mädchen sind potenziell gefährdet.

Kürzlich führten UNICEF, Terre des Femmes und der Berufsverband der Frauenärzte eine Umfrage unter Frauenärzten und Frauenärztinnen in Deutschland zum Thema Genitalverstümmelung durch. 43 Prozent der Ärzte, die den Fragebogen beantworteten, gaben an, bereits eine beschnittene Frau in ihrer Praxis behandelt zu haben. Ein Drittel hatte eine beschnittene Frau bei der Geburt betreut. Der Informationsbedarf über FGM war groß: Fast 90 Prozent sprachen sich dafür aus, das Thema auf Fortbildungsveranstaltungen zu thematisieren.

"Während des Medizinstudiums wurde uns nichts über Genitalverstümmelung beigebracht", erinnert sich Dr. Sabine Müller. Die Gynäkologin sieht etwa fünf bis zehn Frauen im Monat, die beschnitten sind. Die Patientinnen kommen wegen Schwangerschaftsabbrüchen oder Kinderwunsch zu ihr - das Thema Beschneidung steht in der Regel nicht im Vordergrund. "Ich frage jedoch jede Frau, ob sie beschnitten ist und mehr darüber erzählen möchte", berichtet Dr. Müller. "Die meisten Frauen reagieren positiv und sind sehr interessiert." Behutsam und vorsichtig mit den Frauen umzugehen ist in dieser Situation noch wichtiger als ohnehin in der Gynäkologie.

"Wenn ich die komplett verstümmelten Genitalien einer Grad-III-FGM sehe, bin ich jedes Mal schockiert darüber, was diese Frauen durchmachen mussten", erzählt Dr. Petra Jäger-Hirn, Gynäkologin in Bonn. "Bei einer meiner Patientinnen waren Scheide und Gebärmutterhals so vernarbt, dass das Menstruationsblut nicht abfließen konnte. Die Frau litt alle vier Wochen unter unerträglichen Unterleibsschmerzen. Ich musste ihr Hormone verschreiben, damit sie nicht mehr blutete."

Infibulierte Frauen in Afrika lernen in den meisten Fällen, mit ihrer Verstümmelung zu leben. "Die Frauen buddeln sich dort während ihrer schmerzhaften Periode in den heißen Wüstensand ein und klopfen sich auf den Bauch, damit das Blut besser abfließen kann", erzählt Annette Weber. "Mit Stöcken versuchen sie, das Menstruationsblut aus ihrem Körper herauszutreiben."

 

FGM in Deutschland: schwere Körperverletzung

In Deutschland gilt Genitalverstümmelung als schwere Körperverletzung und ist strafbar. Seit Inkrafttreten des neuen Zuwanderungsgesetzes am 1. Januar dieses Jahres dürfen Frauen bei einer drohenden Verstümmelung nicht abgeschoben werden. Das neue Gesetz zeigt bereits Wirkung: Anfang des Jahres stoppte das Verwaltungsgericht in Kassel die Abschiebung von drei Mädchen nach Togo, da sie in ihrem Heimatland beschnitten werden sollten. Bei drohender Genitalverstümmelung kann nach der neuen Rechtsprechung sogar in das Sorgerecht der Eltern eingegriffen werden: Einer in Deutschland lebenden Frau aus Gambia wurde das Aufenthaltsbestimmungsrecht für ihre fünfjährige Tochter entzogen, da diese zur Beschneidung zu ihrer Großmutter nach Gambia gebracht werden sollte.

 

Ursache der FGM: tief verwurzelte Traditionen

Die Gründe für die Beschneidung von Frauen gehen bis weit in die pharaonische Zeit zurück. "Ursprünglich stand die Macht über die Frauen im Vordergrund", erklärt Rüdiger Nehberg, der sich seit mehr als fünf Jahren mit seiner Menschenrechtsorganisation TARGET erfolgreich gegen die Genitalverstümmelung einsetzt (siehe Interview in dieser Ausgabe). "Auch heute noch glauben einige Völker, dass die Libido der Frau ohne Beschneidung so hoch sei, dass sie ständig fremdgehen würde." Das Herausschneiden der Klitoris und des sensiblen Gewebes des äußeren Genitale soll die sexuelle Lust der Frauen schwächen und ihre Keuschheit und Jungfräulichkeit vor der Hochzeit sicherstellen. Beim Mann soll sich durch die Beschneidung das sexuelle Vergnügen erhöhen. Für die kleinen Mädchen ist die Beschneidung der Beginn eines neuen Lebensabschnitts: die Vorbereitung auf das Dasein als Frau.

Die Beschneidung ist Teil des kulturellen Erbes der Völker, sie dient der sozialen Integration und dem Zusammenhalt der Gesellschaft. Hinzu kommen hygienische und ästhetische Gründe für eine Beschneidung: Die Völker glauben, dass die weiblichen Genitalien ohne die Beschneidung schmutzig und unansehnlich sind und aus hygienischen Gründen entfernt werden müssen. "Viele denken, dass die Schamlippen unendlich wuchern, wenn sie nicht beschnitten werden", erzählt Annette Weber. Der Glaube an Traditionen und an die Religion ist so groß, dass das Ritual bislang nur von wenigen Frauen hinterfragt wird.

"Wenn sie es nicht anders kennen und alle es tun, erscheint ihnen das Ritual ganz selbstverständlich", berichtet die ehemalige Beschneiderin Ourèye Sall aus dem Senegal. "Man kann nicht sagen, dass die Frauen gezwungen werden. Sie lassen es über sich ergehen, da es - wie sie denken - von ihnen erwartet wird." Zahlreiche Migrantinnen in Deutschland sind inzwischen so an die westliche Welt akklimatisiert, dass sie ihre Töchter nicht mehr beschneiden lassen möchten. Doch die Beschneidung wird vehement von der eigenen Mutter, Schwieger- oder Großmutter im Ursprungsland verfochten und gefordert. "Von den 6.000 Mädchen, die pro Jahr gefährdet sind, werden die Hälfte außerhalb Deutschlands beschnitten, die andere Hälfte im Land", schätzt Dr. Müller.

Mit der zunehmenden Immigration betreuen immer mehr Frauenärzte in Deutschland beschnittene Frauen während der Schwangerschaft. "Eine Infibulation ist ein Geburtshindernis", erklärt Dr. Müller. "Ich strebe bei jeder infibulierten Frau eine vaginale Geburt an. Wird die Frau per Kaiserschnitt entbunden, kann es später große Probleme geben, wenn die Frau in ihrem Heimatland ein zweites Kind bekommt, beispielsweise eine Uterusruptur." Zu Beginn der Schwangerschaft rät die Gynäkologin zu einer so genannten Deinfibulation: Hierbei eröffnet sie die Hautbrücke, die den Eingang zur Vagina verschließt und rekonstruiert bei Bedarf die Schamlippen.

Jede infibulierte Frau wird in der Klinik vorgestellt, damit die Geburt genau geplant werden kann. Dr. Müller empfiehlt bei der vaginalen Geburt eine große bogenförmige Episiotomie. Danach wird die Wunde versorgt. Dabei wird in Absprache mit der Frau jedoch nicht der ursprüngliche Zustand wiederhergestellt, also nicht wieder infibuliert. "In Deutschland sollte keine Frau reinfibuliert werden", erklärt Dr. Müller, "trotzdem muss die Wunde natürlich zur Blutstillung vernäht werden."

Dass das Genitale der Frau nach der Geburt anders aussehen wird als vorher, muss Gynäkologe oder Gynäkologin natürlich ausführlich mit der Frau besprechen - und zwar rechtzeitig vor der Geburt.

Vier Wochen nach Fatimas Beschneidung sind die Wundränder zusammengewachsen. Nur durch eine winzige Öffnung, klein wie ein Reiskorn, kann der Urin tröpfeln. Das Wasserlassen dauert eine halbe Stunde, ihre Regelblutung wird zwei Wochen dauern. In der Hochzeitsnacht wird Fatima aufgeschnitten werden, zur Geburt noch einmal. Vielleicht kann Fatima hoffen, dass ihre Tochter nicht verstümmelt wird.

 

Helfen Sie mit gegen Genitalverstümmelung!

Wollen Sie mithelfen, dass es kleinen Mädchen in Zukunft anders ergeht als Fatima? Für jede Aktion brauchen die Hilfsorganisationen dringend Geld. Spenden Sie - auch die kleinste Summe hilft!

 

Terre des Femmes
Die Hilfsorganisation fördert drei Projekte in Afrika (Burkina Faso, Kenia und Tansania) und sorgt in Deutschland mit Flyern, Plakaten und Aktionen dafür, dass die Menschen auf FGM aufmerksam werden.
Spendenkonto: 881 999
Kreissparkasse Tübingen
BLZ 641 500 20

Um die Betroffenen bestmöglich zu informieren, hat terre des femmes die Broschüre "Wir schützen unsere Töchter" herausgegeben. Ärztinnen und Ärzte spielen bei der adäquaten Betreuung der Betroffenen eine Schlüsselrolle!

Terre des Femmes

 

Amnesty international
Die internationale Organisation setzt sich unter anderem dafür ein, dass FGM als eine Verletzung der Menschenrechte anerkannt wird und die Verpflichtung
besteht, die Praktik abzuschaffen oder drastisch zu reduzieren.
Spendenkonto: 80 90 100
Bank für Sozialwirtschaft Köln
BLZ 370 205 00

amnesty international

TARGET
Die von Rüdiger Nehberg gegründete Menschenrechtsorganisation versucht zusammen mit einflussreichen religiösen Oberhäuptern des Islam die Beschneidung als Sünde zu erklären, um zu verhindern, dass Mädchen verstümmelt werden.
Spendenkonto: 24 24 0
Sparkasse Stormarn
BLZ 230 516 10

TARGET

UNICEF
Das Kinderhilfswerk UNICEF unterstützt Projekte in Afrika und klärt über die Gefahren der FGM auf.
Spendenkonto: 300 000
Bank für Sozialwirtschaft Köln
BLZ 370 205 00

UNICEF

 

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