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  • Annika Bosch-Wehmeyer
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  • 03.12.2014

Reine Nervensache – Facharztcheck Neurologie

Unter allen medizinischen Fächern hat sich die Neurologie das komplexeste Gebiet herausgesucht: das menschliche Gehirn. Vier Neurologen erzählen, warum ausgerechnet mit diesem Organ die Arbeit besonders viel Spaß macht.

 

Neurologie, EEG - Foto: K. Oborny

Das Elektroenzephalogramm (EEG) misst Änderungen des elektrischen Potenzials an der Schädeloberfläche. Eingesetzt wird es z. B. bei Epilepsien zur Diagnose und Verlaufskontrolle. Foto: K. Oborny

 

Dr. P. war ein beliebter Musik­professor. Doch dann befiel ihn plötzlich eine seltsame Krankheit: Es begann damit, dass er seine Studenten nur noch an der Stimme, aber nicht mehr am Gesicht erkannte. Irgendwann nahm er seine ganze Umwelt, egal ob Personen oder Gegenstände, nur noch als schematische Strukturen wahr – ohne sie inhaltlich interpretieren zu können.

Der Tiefpunkt war erreicht, als er sich eines Tages bei einem Arztbesuch nach seinem Hut umsah, stattdessen aber nach dem Kopf seiner Frau griff – den er hochheben und aufsetzen wollte. Dr. P. litt an visueller Agnosie. Die Ursache: ein Tumor im Sehzentrum. Und so wurde er „Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte“, der den Neurologen Oliver Sacks zum gleichnamigen Buch inspirierte. Fallgeschichten wie diese sind zwar auch in der Neurologie keine Routine. Sie zeigen aber, wie bunt die Palette der Symptome und Syndrome in diesem Fach ist.

 

Breites Spektrum

„In der Klinik behandeln wir schwerpunktmäßig Schlaganfälle, Epilepsien, neurodegenerative Leiden wie Parkinson oder entzündliche Erkrankungen wie Multiple Sklerose“, erklärt Prof. Lerche, Ärztlicher Direktor der Abteilung für Epileptologie an der Neurologischen Uni­klinik in Tübingen. „Aber natürlich sehen wir auch viele andere Krankheiten, vom Kopfschmerz über Schwindel und Polyneuropathien bis zu seltenen Leiden wie Chorea Huntington.“

Dass sich Neurologen viel Zeit für die Diagnostik nehmen, ist kein Klischee. Schließlich geht es um das gesamte Nervensystem des Menschen. Und wenn damit etwas nicht in Ordnung ist, reicht selten eine einzelne Untersuchung. Da ist mitunter echte Detektivarbeit gefragt – wobei Neurologen anders als Psychiater zumindest den Vorteil haben, dass sie organische Befunde nutzen können, um eine Diagnose zu stellen. Denn hinter neurologischen Leiden stecken immer auch organisch fassbare Krankheiten. Und um diesen auf die Schliche zu kommen, können die Neurologen auf ein ganzes Arsenal moderner Techniken zurückgreifen. Bestes Beispiel sind die Schnittbildverfahren (CT und MRT), mit denen heutzutage auch Veränderungen im Millimeter-Bereich sichtbar gemacht werden können.

 

Patientengespräch - Foto: K. Oborny

Das Arzt-Patient-Gespräch ist in der Neurologie das A und O. Hieraus ergeben sich oft wertvolle Ansätze für die Diagnose. Zudem muss man als Neurologe auch auf neuropsychologische Aspekte achten. Die Übergänge zur Psychiatrie sind fließend. Foto: K. Oborny

 

„Solche Verfahren spielen in der Neuro­logie inzwischen eine extrem wichtige Rolle!“, sagt Prof. Lerche. „Damit können wir viele komplizierte Fragen beantworten.“ Hinzu kommt die Palette der funktionellen Untersuchungen. „Bei der Epilepsie ist die Bildgebung z. B. häufig negativ. Dann hilft das EEG oft weiter, genau wie die Dopplersonografie bei einem Schlaganfallpatienten“, erklärt Prof. Lerche. Nach wie vor wichtig sind für den Neurologen zudem das Patientengespräch und die klassische neurologische Untersuchung. Dr. Silke Klamer arbeitet seit 2010 als Assistenzärztin in der Tübinger Neurologie. Reflexhammer und Stimmgabel gehören dabei zu ihren wichtigsten Werkzeugen. Sie erklärt: „Wir machen nicht immer sofort ein MRT. Durch eine gründliche Untersuchung kann man meist schon ungefähr darauf schließen, an welcher Stelle sich die Läsion bzw. der ­Defekt befindet. Erst danach entscheidet man, ob eine Bildgebung nötig ist und plant die weitere Diagnostik.“

 

Immer mehr Therapien

Sind Neurologen also reine Diagnoseexperten? Weit gefehlt! Auch die therapeutischen Möglichkeiten, über die das Fach verfügt, werden immer besser. Für die Behandlung der Multiplen Sklerose stehen heute neben Beta-Interferon z. B. auch monoklonale Antikörper zur Ver­fügung. Für Menschen mit Epilepsie gibt es ebenfalls eine größere Auswahl an Medikamenten – die auch besser verträglich sind als früher. Schlaganfallpatienten haben heute dank der „Stroke Units“ eine bessere Prognose. Und eine Notaufnahme kann man sich ohne Neurologen gar nicht mehr vorstellen.

„Früher wäre es undenkbar gewesen, verschlossene Gefäße wieder zu rekanalisieren! Heute können wir Patienten vor schweren Lähmungen bewahren, wenn wir nur früh genug eingreifen“, erzählt Prof. Lerche. Dabei verhehlt er nicht, dass es noch ungelöste Probleme in der Neurologie gibt. Egal ob Parkinson, MS oder Epilepsie: Für viele Leiden gibt es noch keine kurative Therapie – was nicht heißt, dass es die nicht irgendwann geben kann. „Auf allen Gebieten der Neurologie tut sich in der Forschung aktuell sehr viel“, versichert Prof. Lerche. „Wer gerne Krankheitsmechanismen auf den Grund gehen will, um neue Therapien zu entwickeln, ist deshalb bei uns absolut richtig.“

 

Analytiker bei der Arbeit

Wenn jemand in die Neuro einsteigen möchte, ist somit neben einem guten klinischen Blick und der Fähigkeit zum analytischen Denken auch der Drang, Neues herausfinden zu wollen, nicht verkehrt. „Die Neurologie steht den Naturwissenschaften sehr nahe“, sagt Prof. Lerche. Er selbst hat zuerst Physik studiert – und ist dann erst zur Medizin gewechselt, weil ihm dieses Studium zu „trocken“ war. Heute ist ihm wichtig, dass seine Mitarbeiter Freiräume für wissenschaftliches Arbeiten haben. Dr. Klamer forscht z. B. zum Thema Quellenlokalisation bei Epilepsien mittels fMRT, MEG und high-density EEG.

Der Tag von Dr. Klamer beginnt meistens zwischen 7.30 und 8.00 Uhr. „Zuerst verschaffen wir uns einen Überblick auf Station und tauschen uns mit der Pflege aus. Danach geht es in die Frühbesprechung.“ Hier sitzt dann die gesamte Neurologie mit den Neuroradiologen zusammen. Patienten werden vorgestellt und Bilder begutachtet. Danach geht es auf Visite. Am Nachmittag werden neue Patienten vom Oberarzt auf Station abgenommen. Es folgen Angehörigengespräche und Arztbriefe, die diktiert werden müssen.

Dr. Klamer befindet sich aktuell im vierten Weiterbildungsjahr. Insgesamt muss sie für den Weg zum Facharzt fünf Jahre einplanen. „Während der mindestens zweijährigen stationären Ausbildung gibt es feste Rotationen auf die Stroke Unit und einen Austausch ­zwischen den Abteilungen für Epileptologie, neurodegenerative Erkrankungen und neurovaskuläre Erkrankungen“, erklärt Prof. Lerche. Verpflichtend sind auch 12 Monate in der Psychiatrie und Psychotherapie und sechs Monate auf Intensiv. Zu den Wahlfächern gehören z. B. Innere, Neurochirurgie oder Neuroradiologie. Ein Austausch ist auf vielen Ebenen möglich. „Mit ein bisschen Flexibilität lassen sich in der Ausbildung die meisten Wünsche erfüllen“, versichert Prof. Lerche.

 

Fach mit Zukunft

Der Bedarf an Neurologen ist groß, und er wird in Zukunft noch steigen – nicht zuletzt wegen des demografischen Wandels. Schon jetzt gibt es mehr Assistenzarztstellen als Bewerber. Die Zukunftsperspektiven könnten kaum besser sein. Und es gibt viele attraktive Projekte, die junge Mediziner auf dem Weg in die Neuro­logie unterstützen. „Vor sechs Jahren starteten einige Assistenzärzte das Projekt Die Jungen Neurologen“, erzählt Dr. Christiana Ossig, selbst Assistenzärztin am Uniklinikum Dresden und Sprecherin der Jungen Neurologen (JuNos).

Seitdem sind die JuNos Ansprechpartner für interessierte Studenten und junge Ärzte. Sie organisieren z. B. ein Mentorenprogramm für angehende Neurologen, deutschlandweite Summer Schools, Seminare und vieles mehr. Dabei agieren die JuNos als Teil der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN), von der sie auch unterstützt werden. Dr. Ossig ist von ihrem Fach fasziniert und freut sich, dass so viele die Neuro zu ihrer Profession machen. Denen, die noch zögern, hält sie entgegen: „Klar ist unser Fach komplex. Das mag eine Hemmschwelle für manche sein. Aber ich kann versichern: Wenn man einmal damit angefangen hat, lässt es einen nicht mehr los!“ .

 


Infos zur Neurologie

Die Neurologie ist das am stärksten wachsende therapeutisch-medizinische Fach. Derzeit gibt es rund 5.500 Neurologen. Vor 20 Jahren war es nur ein Fünftel davon. Allein 2012 nahm die Zahl der Neurologen um 6% zu. Verantwortlich dafür sind einerseits die therapeutischen Fortschritte sowie der steigende Personalbedarf. Zudem ist vor einigen Jahren der frühere „Facharzt für Nervenheilkunde“ ausgelaufen, der die Neurologie und die Psychiatrie umfasste. Jedes Jahr machen rund 450 Mediziner ihren Facharzt für Neurologie. Doch um den Bedarf zu decken, sollten es laut DGN noch 150–200 mehr sein. Der Frauenanteil lag 2012 bei 39%.

 


Neuro unter Palmen  

Lust auf Sonne, Strand – und Nerven? Die Klinik für Neurologie am Westpfalz-Klinikum in Kaiserslautern veranstaltet regelmäßig Fortbildungsakademien an der Côte d’Azur, bei denen man nicht nur die südfranzösische Lebensart, sondern auch die Basics der neurologischen Diagnostik und Therapie kennenlernen kann! Auch Studierende können teilnehmen – zu erschwinglichen Preisen. Wir sprachen mit dem Chefarzt und Organisator Prof. Johannes Treib.

Das Interview findest du hier

 


Warum lohnt es sich, Neurologe zu werden?

 

Dr. Silke Klamer - Foto: K. Oborny

Dr. Silke Klamer:

Das Gehirn ist das spannendste Organ des menschlichen Körpers. Mit guten Kenntnissen der Neuroanatomie kann man allein durch die Anamnese und körperliche Untersuchung sehr viele Hinweise auf die mögliche Krankheits­ursache bekommen. Dafür ist nicht nur Wissen, sondern auch logisches Denken gefragt. Manchmal muss man auch gut knobeln und ein bisschen Detektiv spielen können. Das gefällt mir sehr gut.

Prof. Holger Lerche - Foto: K. Oborny

Prof. Dr. Holger Lerche

An der Neurologie schätze ich besonders ihren logischen Aufbau – damit steht sie den Naturwissenschaften sehr nahe. Außerdem verzeichnen wir in der Neurologie aktuell unglaublich viele therapeutische Fortschritte und Innovationen, gerade im Bereich der bildgebenden Verfahren. Wenn es ein Feld in der Medizin gibt, das noch viel Entwicklungspotenzial hat, dann ist das sicherlich die Neurologie!

Dr. Uwe Meier - Foto: K. Oborny

Dr. Uwe Meier

Als Neurologe habe ich mit den unterschiedlichsten Patienten aller Alters­gruppen zu tun. Manche Patienten behandle ich ein Leben lang. Die Neurologie ist ein modernes, hochtechnisches Fach. Aber oft geht es nicht nur darum, eine Diagnose zu stellen und eine Akuttherapie festzulegen, man sieht auch die neuropsychologischen und psychosozialen Implikationen einer Erkrankung. Da wird der Neurologe zum Allrounder – und zum Sozialarbeiter!

 

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