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  • Verena Lucia Hagmann
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  • 07.05.2015

Facharztcheck Intensivmedizin - Jeden Tag ein Schicksal

Intensivmedizin gilt vielen Laien als ­Synonym für eine sterile Apparatemedizin. Doch Intensivärzte starren keineswegs nur ständig auf Monitore. Sie arbeiten sehr interdisziplinär, teamorientiert und menschennah.

 

Ärztin in der Intensivmedizin - Foto: Kirsten Oborny

Intensivmediziner kontrollieren die gesundheitliche Situation ihrer Patienten sehr engmaschig. Dabei verlassen sie sich niemals nur auf die Angaben der Vitaldatenmonitore. Sie untersuchen ihre Patienten auch mehrfach pro Tag klinisch. Hier auskultiert Dr. Winter die Herztöne eines beatmeten Patienten. Foto: Kirsten Oborny

 

 

Die Blasebälge ächzen im Akkord. Die Luft ist stickig im überfüllten Krankensaal des Kopenhagener Blegdamhospitals. Dutzenden von Pflegenden und Medizinstudenten steht der Schweiß auf der Stirn. Jeder sitzt an der Pritsche eines Patienten, den er manuell beatmet – über Stunden! Die Helfer haben von ihrer monotonen Arbeit verschwielte Hände. Doch sie wissen: Jede Kompression schenkt ihren Patienten einen Atemzug.

Diese Atemspendeaktion im Sommer 1952 gilt als Geburt des „Konzepts“ Intensivstation. In Dänemark wütet damals eine Polioepidemie. Viele Erkrankte sterben an einer Zwerchfelllähmung. Zwar gibt es mit der „Eisernen Lunge“ bereits ein Gerät zur Unterdruck-Beatmung.

Das Blegdamhospital verfügt aber nur über ein einziges Exemplar. Dem Anästhesist Björn Ibsen kommt die Idee, die Kranken über einen Beutel zu beatmen – so wie es im OP damals üblich ist. Da die Polio-Patienten aber zum Teil wochenlang beatmet werden müssen, braucht es Hunderte von Helfern, die die lückenlose „Be­beutelung“ sicherstellen. Doch die Sterblichkeit sinkt so von knapp 90 % auf etwa 25 % – die Langzeit-Überdruck-Beatmung ist geboren.

 

Intensivmedizin - Foto: Kirsten Oborny

Intensivmedizin bedeutet kontinuierliches Optimieren der Therapiesituation. Hier justiert Dr. Winter die Beatmungsparameter eines Patienten. Foto: Kirsten Oborny

 

 

Teuer – aber wichtig

Intensivmediziner von heute müssen ihre ­Patienten nicht mehr von Hand beatmen. Alle Hände voll zu tun haben sie aber trotzdem. In den letzten zehn Jahren stieg die Zahl der Behandlungsfälle auf Deutschlands Intensiv­stationen um etwa 8 % – unter ihnen auch immer mehr schwerstkranke beatmete Pa­tienten. Deshalb wurden in den vergangenen Jahren etwa 2.000 zusätzliche Intensivbetten geschaffen.

Ein Kraftakt für die Kliniken, denn Ausstattung und Betreuung einer Intensivstation verursachen oft über 20 % der Klinikkosten. „Natürlich ist der Aufwand, den wir betreiben, enorm“, sagt Prof. Andreas Walther, Ärztlicher Direktor der Klinik für Anästhesie und operative Intensivmedizin im Katharinenhospital in Stuttgart. „Für die Behandlung von Schwerstkranken braucht man viele spezielle Geräte und eine hohe Personaldichte. Doch die Lebensqualität, die wir unseren Patienten nach lebensbedrohlichen Zuständen zurückgeben können, rechtfertigt diesen Aufwand.“

 

Intensivmedizin - Foto: Kirsten Oborny

Aufnahmegespräche werden nur selten geführt. Viele Patienten kommen sediert oder als Notfall. Foto: Kirsten Oborny

 

Schwer interdisziplinär

Dass die Intensivtherapie ihren Namen zu Recht trägt, zeigt ein Blick auf den Klinikalltag. Die lückenlose Überwachung durch Vitaldaten­monitore ist da nur ein Aspekt. „Natürlich untersuchen wir unsere Patienten mehrfach täglich auch klinisch“, erzählt Dr. Juliane Winter, Anästhesistin im vierten Weiterbildungsjahr. „So können wir rasch therapeutisch eingreifen, wenn sich z. B. der Kreislauf oder die Atmung verschlechtert.“

Bei den etwa drei Visiten pro Tag legen die Intensivärzte die Tagesziele für ihre Patienten fest. „Wir schauen z. B. die Medikation durch und passen sie der aktuellen Situation an. Gemeinsam entscheiden wir auch, wann ein Patient von der Beatmung entwöhnt wird oder verlegt werden kann“, erklärt Dr. Winter. Hinzu kommen noch interdisziplinäre Visiten, bei denen sich die Intensivärzte mit Ärzten anderer Fächer austauschen. Denn die Intensivmedizin hat zwar ihre Kernkompetenzen – etwa die Regulation von Störzuständen des Herz-Kreislauf-Systems –, bei vielen Patienten ergeben sich aber spezielle Fragen.

Bei Schädel-Hirn-Traumen ­werden z. B. Neurologen oder Neurochirurgen konsultiert. Bei Patienten mit schweren Verletzungen stimmen sich die Ärzte mit den Chirurgen ab. „Oft diskutieren wir dann gemeinsam am Krankenbett die Therapie­optionen, um den Patienten maximal effektiv und individuell behandeln zu können“, erklärt Prof. Walther.

Intensivmedizin - Foto: Kirsten Oborny

Geschickte Finger sind in diesem Fach unabdingbar – und die Fähigkeit, in einem Gewirr von Hightech rund um die Patienten die Übersicht zu behalten. Foto: Kirsten Oborny

Viel zu wissen, viel zu können

Dass die Intensivmedizin Schnittstellen zu vielen anderen Disziplinen hat, spiegelt sich in der Weiterbildung wieder. Sie ist keine eigene Facharzt­richtung, sondern eine Zusatzweiterbildung, die Anästhesisten, Chirurgen, Internisten, Pädiater, Neurochirurgen und Neurologen erwerben können (Kasten, S. 23). Der Facharzt wird dann als adjektivischer Zusatz vorangestellt. Ein Internist kann sich dann also z. B. „Facharzt für internistische Intensivmedizin“ nennen.

Entsprechend dieser breiten Palette haben die meisten Intensivstationen auch verschiedene Schwerpunkte: „Etwa die Hälfte unserer Pa­tienten kommen nach großen OPs zur Überwachung zu uns“, beschreibt Prof. Walther das Spektrum der operativen Intensivmedizin. „Die anderen 50 % sind Notfälle, oft Polytraumata.“ Patienten mit akuten Erkrankungen aus dem internistischen Bereich werden dagegen auf der konservativen Intensivstation versorgt.

Die meisten Intensivpatienten leiden gleich an mehreren schweren Krankheiten. „Man muss da ganz schön komplex denken und die Wechsel­wirkungen bei der Therapie beachten“, sagt Dr. Winter. Und Prof. Walther ergänzt: „Als Assistenzarzt in der Intensivmedizin muss man sich anfangs schnell ein breites Wissen aneignen. Außerdem sollte man möglichst viel klinische Erfahrung sammeln.“

 

Intensivmedizin - Foto: Kirsten Oborny

Bei immungeschwächten Patienten muss penibel darauf geachtet werden, keine „Außenwelt-Keime“ ans Bett zu tragen. Foto: Kirsten Oborny

 

Und in der Mitte: ein Mensch

Neben der Kenntnis sämtlicher Mess- und Über­wachungstechniken gehören auch invasive Verfahren, etwa Punktions- und Drainage­tech­niken, zum Tagesgeschäft. „Zu diagnostischen oder therapeutischen Zwecken versorgen wir unsere Patienten mit Zugängen“, erklärt Dr. Harald Weng, Oberarzt der operativen Intensivstation im Katharinenhospital. „Wir legen z. B. zentrale Venenkatheter für die Gabe von hochkonzentrierten Elektrolyt- oder Nährstoff­lösungen, Thoraxdrainagen bei Patienten mit Pneumothorax oder spezielle Katheter zum Kreislaufmonitoring.“

Jeder Intensivarzt muss sich ferner mit allen Beatmungstechniken und Sedierungsverfahren auskennen. Für den Fall einer Arrhythmie müssen die Methoden der Rhythmusregulation (z. B. Kardioversion) beherrscht werden. Akute Organversagen erfordern die Kenntnis extrakorporaler Ersatzverfahren, etwa mittels Dialyse.

Doch in der Intensivmedizin ist keineswegs alles nur Hightech. Dr. Weng betont: „Die Geräte helfen uns zwar dabei, lebensbedrohliche Zustände zu überbrücken. Im Mittelpunkt steht aber immer der Mensch.“

Auch wenn die meisten Patienten sediert und nicht ansprechbar sind, versuchen die Ärzte und Pflegenden ihnen das Gefühl zu vermitteln, dass da jemand ist, der sich um sie kümmert. „Zudem stehen wir mit den Angehörigen unserer Patienten täglich in engem Kontakt“, so Dr. Weng. „In der Ausnahme­situation, in der sie sich befinden, sind sie auf den Austausch mit uns angewiesen.“

Intensivmedizin - Foto: Kirsten Oborny

Keiner arbeitet auf Intensiv für sich allein. Ständiges Abstimmen mit anderen Ärzten ist obligat. Foto: Kisten Oborny

Jeden Tag ein Schicksal

Solche Gespräche können sehr belastend sein: Da ist z. B. die junge Mutter, im dritten Monat schwanger, die am Abend zuvor noch mit ihrem Freund Urlaubspläne schmiedete. Jetzt liegt der Mann auf Intensiv. Wegen eines okkulten Herzfehlers hatte er auf der Arbeit einen Herzstillstand. Er konnte reanimiert werden, doch der Neurologe hat gerade eben den Hirntod festgestellt. Wie findet man da die richtigen Worte?

„Als Intensivmediziner sehen wir fast täglich schwere Schicksale“, bestätigt Prof. Walther. Um sich davon nicht in ein Loch ziehen zu lassen, ist zweierlei wichtig: Zum einen muss man sich – bei aller Empathie – emotional ein Stück weit distanzieren.

Zum anderen sollte man bei schweren Verläufen immer das Team einbeziehen: „Entscheidungen von großer Tragweite werden immer im Konsens mit Angehörigen und ärztlichen Kollegen getroffen“, sagt Dr. Weng. „Zudem gibt es bei schweren ethischen Fragen, etwa ob eine lebensverlängernde Maßnahme fortgeführt werden soll, vom Gesetzgeber klare Richtlinien.“ Und Prof. Walther ergänzt: „Schwierige Fälle arbeiten wir im Team auf, und bei Bedarf holen wir uns sogar externe Hilfe.“

Dass Intensivmediziner auch wunderbare Momente mit ihren Patienten erleben können, bestätigt Dr. Winter. Als die junge Ärztin eines Tages zu einer Routine-Narkoseaufklärung ging, dachte sie sich nichts Besonderes. „Als ich die Tür zum Patientenzimmer öffnete, sah ich ein Mädchen auf dem Bett sitzen, das gerade auf seinem Handy herumtippte – ein ganz normaler Teenager. Aber auf den zweiten Blick bemerkte ich, dass ich sie kenne. Das Mädchen hatte einige Monate zuvor eine Hirnblutung und war viele kritische Wochen beatmet bei uns auf der Intensivstation. Sie nun in so guter Verfassung zu sehen, war überwältigend!“

 

Häufige Nebenwirkung: PTBS

„Wenn Patienten, die bei uns nicht mal die Augen öffnen konnten, auf einmal vor einem stehen und mit einem reden, ist das sehr bewegend“, bestätigt auch Dr. Weng. Wobei nur wenige Patienten nach ihrer Genesung zu ­einem Besuch auf Intensiv kommen – zu belastet sind die wenigen Erinnerungen, die sie an diesen Ort haben. Etwa 20 % der ehemaligen Intensiv-Patienten haben sogar eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS).

Die Angst, die empfundene Hilflosigkeit, die Schmerzen und der Schlafmangel spielen bei der Entwicklung eine wichtige Rolle. Die Erkrankung äußert sich durch Flashbacks, Halluzinationen oder emotionale Isolation. Einen Ansatz, mit dem man evtl. die PTBS eindämmen könnte, verfolgt seit Herbst 2013 ein Team aus Intensivmedizinern, Psychologen und Architekten in einem Pilotprojekt an der Charité in Berlin: Sie untersuchen, welchen Effekt das Krankenzimmer auf den Heilungsverlauf eines Patienten hat. Das Projekt „Parametrische (T)Raumgestaltung“ hat für den Patienten ein Höchstmaß an Privatsphäre zum Ziel. Licht- und Temperaturintensität orien­tieren sich z. B. an der zirkadianen Rhythmik. Alarmgeräusche sind maximal gedämpft. Oberflächen aus warmer Holzoptik lassen die Geräte in den Hintergrund treten.

Ob solche Maßnahmen den Genesungsprozess für die Patienten tatsächlich angst- und stressärmer gestalten, wird sich im Frühjahr 2015 zeigen, wenn die Wissenschaftler die Ergebnisse des Projektes auswerten. .

Fakten zur Intensivmedizin


Qualifikation:
Die Zusatzweiterbildung Intensivmedizin dauert zwei Jahre. Anästhesisten können hiervon zwölf Monate mit ihrer Weiterbildung verrechnen. Alle anderen Disziplinen (Internisten, Chirurgen, Pädiater, Neurologen und Neurochirurgen) können sich von ihrem Fach sechs Monate anrechnen lassen. Angehende Intensivmediziner erlernen während der Ausbildung z. B. die Therapie eines Lungen- oder Nierenversagens, akuter Störungen des ZNS sowie die Behandlung von Schockzuständen, Sepsis oder Multiorgan­versagen.

Auch die Anwendung intensiv­medizinischer Scoresysteme, der Transport von Intensivpatienten oder die Durchführung einer Hirntoddiagnostik sind Weiterbildungsinhalte. Alle Details findest du in der Musterweiterbildungsordnung und im Musterlogbuch auf den Seiten der Bundesärztekammer unter: www.bundesaerztekammer.de

Zahlen:
Im Jahr 2012 wurden in Deutschland 2.127.037 Patienten intensivmedizinisch versorgt. 384.349 wurden beatmet. Rund 1.200 der 2.017 deutschen Krankenhäuser verfügen über Intensivbetten. Deutschlandweit sind Intensivmediziner Mangelware. Einer Studie zufolge fehlen alleine in der internistischen Intensivmedizin 400 Intensivärzte.

 

Warum lohnt es sich Intensivmediziner zu werden?

 

Dr. Harald Weng: „Intensivmedizin ist unvorhersehbar. Ob Polytrauma, Schock oder Peritonitis, ich weiß morgens nie, was den Tag über auf mich zukommt. Das ist natürlich eine Herausforderung, es macht das Fach aber gleichzeitig auch extrem spannend. Toll ist auch, dass Intensivmediziner nichts ausklammern. ,Dafür sind wir nicht zuständig‘, gibt es in der Intensivmedizin selten. Wir sind echte Generalisten!“

 

Dr. Juliane Winter: „Als Intensivmedizinerin arbeite ich ganz nah am Menschen – auch wenn sie vielleicht gerade nicht ansprechbar sind. Dadurch, dass auf einen Intensivarzt ,nur‘ etwa neun Patienten kommen, bleibt viel mehr Zeit für den einzelnen. Wenn‘s mal brenzlig wird, lernt man schnell Prioritäten zu setzen oder sich Hilfe zu holen. Das sind Fähigkeiten, die einem auch abseits der Intensivstation enorm helfen.“

 

Prof. Dr. Andreas Walther: „Die enge Verflechtung der Intensivmedizin mit anderen Fachrichtungen und Professionen bereichert mich jeden Tag aufs Neue. Ärzte, die gerne im Team arbeiten, können sich so ein sehr breites Wissen und ein fundiertes Verständnis für medizinische Zusammenhänge erarbeiten.

 

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