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  • Bericht
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  • Dr. Yvonne Kollrack
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  • 22.12.2015

Eiskalter Notfall – Hypothermie bei Arktisausflug

Wenn Menschen erfrieren, geht das manchmal ganz schnell. Sobald die Körperkerntemperatur einen kritischen Wert unterschritten hat, können schlagartig lebensbedrohliche Arrhythmien einsetzen. Schiffsärztin Dr. Yvonne Kollrack berichtet anhand eines authentischen Falls, wie man Patienten mit Hypothermie richtig versorgt.

Dr. Eibe steht an Deck und mustert den Horizont. Das Schiff gleitet an Eisschollen vorbei hinaus in eisfreies Wasser. Hier kann der Kapitän besser navigieren. Dafür sind die Wellen höher. Viele der Touristen, die eine Reise um die arktische Inselgruppe Spitzbergen gebucht haben, kämpfen mit Seekrankheit. Dr. Eibe ist als Schiffsarzt für ihre Gesundheit verantwortlich. Nachdenklich mustert er das eiskalte stahlblaue Wasser. Was würde passieren, wenn einer der Passagiere über Bord fiele? Dr. Eibe erinnert sich an die herzergreifende Schlussszene des Films „Titanic“. 

Minutenlang führt Leonardo di Caprio im Wasser Abschiedsgespräche mit seiner Liebsten. Wie realistisch ist das bei einer Wassertemperatur von 0° C? Die Leitfähigkeit von Wasser ist 25 Mal so hoch wie von Luft. Besonders viel hätte Leo wohl nicht mehr sagen können. Der Schock durch das Eintauchen ins Eiswasser hätte neben Zitterattacken zu Hyperventilation und Muskelspasmen geführt. Die Körperkerntemperatur wäre rapide abgesackt. Nach spätestens 15 Minuten hätte er das Bewusstsein verloren, vielleicht wäre er auch schon vorher ins Kammerflimmern gerutscht.

Steif gefroren im Zodiac*!

Das Schiff ankert. Gleich werden die Passagiere mit Schlauchbooten zu einer Fototour in einen Fjord fahren. Dr. Eibe zieht mehrere Schichten Kleidung übereinander. Denn unterkühlen kann man sich nicht nur, wenn man in kaltes Wasser fällt oder von einer Lawine überrollt wird. Immobilität bei frostigem Klima ist eine Hauptursache für eine Hypothermie. Notfallmediziner haben damit häufig bei Personen mit vermindertem Kälteempfinden wegen Alkohol-oder Drogenkonsum zu tun. Auch erschöpfte oder alte Menschen sind anfälliger.

Die Tour geht zwischen Eisbergformationen hindurch. Die Passagiere sind fasziniert. Dort schwimmt das Matterhorn, gegenüber ein Hasenkopf. Auf einer Scholle wird ein dösender Eisbär entdeckt. Die Auslöser der Kameras klicken. Erst nach zwei Stunden treibt der Hunger die Expeditionsteilnehmer zurück zum Schiff. Nacheinander verlassen sie an der Ausstiegstreppe ihre Zodiacs. Doch was ist im letzten Boot los? Die Seeleute machen hektische Gesten in Richtung des Arztes an Deck. Dr. Eibe greift zum Funk, der ihn immer mit der Crew verbindet. Ein Passagier bewegt sich nicht mehr. Er sei wie steifgefroren! Rasch steigt Dr. Eibe ins Boot. Der Passagier sitzt apathisch auf dem Schlauchbootrand. Der Schiffsarzt schätzt die Körperkerntemperatur auf knapp unter 32°C. 

An dieser Grenze geht eine milde (32–35°C) in eine moderate Hypothermie (28–32°C) über. Eine milde Hypothermie ist durch Muskelzittern, Verwirrtheit, Tachykardie und erhöhten Blutdruck gekennzeichnet. In der moderaten Hypothermie zittert der Patient nicht mehr. Er ist apathisch, es überwiegt die Erschöpfung mit ungelenken, ataktischen Bewegungen und Muskelrigidität, Bradykardie und Hypotonie. Die periphere Vasokonstriktion führt zu einer Zentralisierung des Kreislaufs. Der Patient rutscht in die „danger zone“, in der jederzeit lebensbedrohliche Arrhythmien auftreten können. Unterhalb 28°C Körperkerntemperatur spricht man von einer schweren Hypothermie. In dieser Phase sind die Patienten meistens bewusstlos, zeigen eine Areflexie, weite Pupillen und eine Bradykardie bis zum Kreislaufstillstand.

Rasch erwärmen – aber kontrolliert

Als Dr. Eibe den Passagier anspricht, bewegen sich immerhin seine Augen. An der A. Carotis zählt er 50 Schläge pro Minute, darunter einige Extrasystolen. Nun gilt es, den Patienten rasch ins Warme zu bringen. Jede Bewegung muss dabei verhindert werden, damit kein kaltes Blut aus der Peripherie ins Körperinnere gelangt und die Kerntemperatur weiter absenkt. Im Extremfall kann man dadurch Kammerflimmern auslösen – den sogenannten „Bergungstod“. Dr. Eibe bespricht sich rasch mit den Seeleuten. Sie hüllen den Mann in Decken. Ein Matrose nimmt das Schlauchboot an den Kran und hebt es an Deck. Danach tragen Helfer den Patienten in sitzender Position in das kleine Bordhospital neben Dr. Eibes Kajüte. 

Vorsichtig lässt der Schiffsarzt seinen Patienten hinlegen. Ein Mitpassagier stellt sich als Feuerwehrmann mit Erfahrung im Rettungsdienst vor. Vorsichtig schält er mit dem Doktor den Mann aus den vom Spritzwasser feuchten Kleidern. Danach hüllen sie ihn in eine wärmereflektierende Folie und legen ihm eine Wärmflasche auf die Brust (Tabelle). „Wir müssen auch den Kopf einpacken“, erklärt Dr. Eibe. „Der macht 9 Prozent der Körperoberfläche aus!“ Der Feuerwehrmann wundert sich laut, warum der ältere Mann nicht einmal eine Mütze aufgehabt habe. „Plötzlich so spät … Ausflug nicht verpassen …vergessen…“, stammelt es aus der Tiefe der zusätzlich einhüllenden Decken. Wenn sich Dr. Eibe auch oft über die Ausstattung des Bordhospitals ärgert, das Fieberthermometer funktioniert und misst 31,9°C rektal. Während der Feuerwehrmann den Blutdruck misst, bereitet Dr. Eibe den Notfalldefi zur EKG-Ableitung vor, um erkennen zu können, ob eine gefährliche Arrhythmie besteht. Im EKG sind die Phasen verlängert. Zudem zeichnet sich eine J-Welle*** ab. 

Auf weitere Diagnostik muss Dr. Eibe verzichten. Laboruntersuchungen oder gar eine Blutgasanalyse kann er an Bord nicht durchführen. Auch angewärmten Sauerstoff hat er nicht zur Verfügung. Eine aktive Wiedererwärmung mittels Wasserbad bei 37–41°C kommt nicht infrage. Zwar hat der im Bad des Schiffsarztes extra für solche Zwecke eine Badewanne. Doch bürge diese Maßnahme die Gefahr, dass sich die Hautgefäße rasch dilatieren und dadurch kaltes Blut in den Körperkern fließt. Dann könnte der Patient – ausgerechnet in der Badewanne – reanimationspflichtig werden.

„Nobody is dead, until he is warm ... !“ 

Dr. Eibe beschließt einen Zugang zu legen. Zwar weiß er, dass angewärmte Infusionen zur Wiedererwärmung nicht viel bringen. Zumindest kann er dann aber im Fall der Fälle rasch Medikamente applizieren. Doch auch hier ist Vorsicht angebracht: Atropin hat bei einer hypothermiebedingten Bradykardie keinen Effekt. Adrenalin würde die periphere Vasokonstriktion nur noch verstärken. Dr. Eibe fällt ein englisches Notarzt-Sprichwort ein: „Nobody is dead until he is warm and dead!“ Ein unterkühlter Patient muss solange reanimiert werden, bis seine Temperatur im Normbereich liegt. 

Ein Grund dafür ist, dass bei Hypothermie das vermeintlich sichere Todeszeichen der Leichenstarre durch kältebedingte Muskelrigidität simuliert werden kann. Doch in diesem Fall ist das kein Thema. Der Patient von Dr. Eibe wird wacher. „Die Landschaft war so schön, ich habe gar nicht gemerkt, wie mir immer kälter wurde!“, erklärt der alte Herr. Seine Temperatur liegt jetzt bei 36,4°C. Er wird von Dr. Eibe auf sein Zimmer begleitet und bekommt heiße Getränke. Der Schiffsarzt schnauft zufrieden durch. Wieder in der Kabine angelegt, schaut er sich das Durcheinander in seinem kleinen Bordhospital an. Dann legt er sich zur Erholung erst mal in die Badewanne.

METHODEN ZUR WIEDERERWÄRMUNG BEI HYPOTHERMIE 
passive Wiedererwärmung  Einhüllen in Reflektorfolie und mehrere Decken (Erwärmung durch die eigene Wärmeproduktion des Patienten, erreichbar etwa 0,1–3°C/h) 
aktive externe Wiedererwärmung  Elektrische Wärmedecken, Hibler-Packung (mit warmem Wasser angefeuchtete Decke), Wärmflaschen, Wärmestrahler, Warmluftgebläsedecke. 
aktive Kern-Wiedererwärmung Zufuhr heißer Getränke. Bei <32°C (moderate oder schwere Hypothermie) sind invasive Maßnahmen indiziert, z. B. Magenspülung mit erwärmten Lösungen, Beatmung mit angewärmtem Sauerstoff, Peritonealdialyse. Wenig effektiv sind angewärmte Infusionen. Bei instabiler Hämodynamik oder <28°C sind extrakorporale Verfahren indiziert, z. B. die Dialyse oder der Anschluss an eine Herz-Lungen-Maschine (HLM). Dadurch Erwärmung von 3–15°C/h möglich. 
ACHTUNG! Bei Körperkerntemperatur <32°C aktive externe Wärmeapplikation
nur auf den Rumpf! Keine heißen Wärmebäder! Periphere Erwärmung
kann zum „after-drop“ führen (plötzliche Vasodilatation verursacht Rückfluss kalten Blutes zum Herz mit der Gefahr des Kreislaufversagens, Bewegung der Extremitäten bei der Bergung kann den selben Effekt haben). Deswegen auch kein Alkohol! Der „Schnaps zum Aufwärmen“ führt ebenfalls zur peripheren Vasodilatation! 

* Name des Protagonisten verändert. Der Ablauf der Fallgeschichte wurde leicht modizifiert.

** Schlauchboot mit festem Rumpf und Außenbordmotor.

*** Eine J-Zacke (Syn.: Osborn-Zacke) ist eine (positive) „Nachschwankung“ am Übergang vom QRSKomplex zur ST-Strecke.


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