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  • 06.08.2015

Jahr 2: Dreistigkeit siegt

Der kleine PJler hat es satt, immer der Arsch zu sein, der von allen ausgenutzt wird.


Warum mache ich das hier eigentlich gerade? Warum sitze ich morgens um 07:30 Uhr in einem Institut mit 12 meiner Studienkollegen in einem stickigen Hörsaal und höre mir das Dröhnen eines Doktors an, der sicherlich viel Erfahrung und ein gewaltiges Wissen in seiner Forschungsrichtung hat, ihm diese Kompetenz jedoch leider in der Lehre und dem sozialen Umgang fehlt.

Ein Kollege wird aufgerufen. Müde steht er auf, geht an mir vorbei und der scharfe, stechende Geruch von Altalkohol liegt in meiner Nase. Kurz darauf trägt er ein auswendig gelerntes Thema vor, wiederholt auswendig gelernte Floskeln, lächelt verlegen und lässt sich in jeder Weise anmerken, dass er keine Ahnung von diesen Strukturformeln hat, die er gerade aufzeichnet. Ein verlegener Klopfapplaus auf den Tischen entlässt ihn zurück auf seinen Sitz – beziehungsweise Schlafplatz. Mein Referat ist dran, auch nicht besser als das des Kollegen. Und während ich über Katecholamine vor mich hin brabble, merkt man sämtlichen meiner Kollegen an, dass ihnen eben diese Katecholamine wohl in diesen Morgenstunden gerade fehlen. Leider trägt mein Referat auch nicht gerade zu ihrer Sympathikusaktivität bei.

Zeitgleich mit den Referaten geht eine Liste rum und jeder trägt sich brav darin ein. Manche von uns brauchen unheimlich lange für ihre Unterschrift. Mein Nachbar hat nun schon fast fünf Minuten den Unterschriftenzettel und kann sich nicht von seinem Smartphone trennen, auf dem ein Bild geöffnet ist. Wow, löblich, wenn sich Menschen noch so viel Zeit für Perfektion in Kaligraphie nehmen. Das ist bei den krakeligen Unterschriften von Ärzten heutzutage keine Selbstverständlichkeit mehr.

Er reicht mir endlich den Zettel weiter und ich kann es kaum erwarten sein Meisterwerk eines wunderschönen Schriftzeichens zu erblicken, um meinen von logischen Strukturformeln ermüdeten Augen ein Stück Ästhetik zu gönnen. Ich erwarte goldene Letter mit rotem Wachssiegel auf diesem Blatt Papier ... und erblicke ein Paar Kringel, die verdächtige Ähnlichkeit zu den Bildern meines zweijährigen Neffen haben. Fünf Minuten brauchtest du dafür?! Wow, du solltest deinen Zeichenkurs an der Volkshochschule nochmals intensivieren, Freundchen!

Aber das macht mich stutzig. Selbst jemand in unserem unterkoffeinierten Zustand benötigt nicht mehr als ein paar Sekunden für eine Unterschrift. Obwohl ich mir nun nicht anmaße, für die werten eingeklag ... ähem ... eingeschriebenen Herrschaften und Freileute „von und zu“ mit sämtlichen Vornamen zu sprechen.

Ich muss schmunzeln, denn den Kollegen Vino habe ich heute noch gar nicht gesehen und doch steht dort seine Unterschrift. Ich zähle die Unterschriften auf dem Zettel: Es sind also 22 Leute anwesend. Beim durchzählen aller körperlich Anwesenden komme ich auf 13... und das inklusive Aufrunden bei der Schlankheitswahn-Fraktion.


Dieser Morgen ist kein ungewöhnliches Bild. In fünf Jahren Universität habe ich eines definitiv gelernt: Wer sich dreist und unfair verhält, wird es weit bringen, da nur Ehrlichkeit bestraft wird. Diese Lektion werde ich für mein ganzes Leben mitnehmen, auch wenn mir ihr Inhalt absolut zuwider ist. Ob ich diese Lektion anwenden werde, bleibt noch offen. In meinen heute geradezu archaischen Ansichten gibt es noch etwas wie Ehrgefühl und dazu gehört das Ertragen von Pflichtveranstaltungen, so langweilig und langwierig sie auch seien, und die Ablehnung von Betrug in Klausuren.


Ja, ich bin der Meinung, dass Absprachen, wie die Sitz- und Diskussionskreise, die in vielen meiner Klausuren stattgefunden haben, oder die Google- und WhatsApp-Sessions, die auch währenddessen abliefen, blanker Betrug sind und jeder der Beteiligten eine durchgefallene Klausur verdient hätte. Wie stolz bin ich immer darauf gewesen, dass ich in meinem Leben noch nie gespickt und noch nie abgeguckt habe. Und wie sehr habe ich mich in den Augen von Kollegen und Bekannten mit diesem Geständnis lächerlich gemacht, da ich daraus letztendlich nur Nachteile gezogen habe. Ich fühle mich aber wohl und habe ein ruhiges Gewissen, auch wenn ich jetzt auf meinen Noten sitze. Ich bezweifle jedoch, dass irgendeiner dieser Betrüger ein schlechtes Gewissen hat.

Im Gegenteil, ich bekomme mehr und mehr das Gefühl, dass Dreistigkeit heutzutage schon als Tugend gilt. Es gehört quasi zum guten Ton, sich durch seinen Werdegang durchzumogeln. So stehe ich im Praktischen Jahr häufig schon als einziger PJ-Student nach 13 Uhr auf meiner Station. Noch besser ist es, wenn ich dann in meine dritte OP an diesem Tag gerufen wurde. Die Oberärzte interessiert es wenig, dass immer derselbe PJler im OP steht. Ihnen ist es nur wichtig, dass diese Haken irgendwie statisch und doch dynamisch zugleich in der Operationswunde hängen und man hin und wieder an dieser grünen, maskierten Masse, an der die Haken dran hängen, Frust ablassen kann.


Ich habe es satt, der Arsch zu sein, der ausgenutzt wird! Doch Petzen kommt aus Ehrgefühl nicht in Frage und irgendwer muss ja zur Stelle bereitstehen, da es sonst Ärger gibt. Versuche, sich zu rechtfertigen, langweilen die Vorgesetzen nur und wollen eigentlich gar nicht gehört werden.

Noch habe ich zu große Furcht, berechtigt oder nicht sei dahin gestellt, vor den Folgen, die eine negative Voreinstellung eines Prüfers auf einen im mündlichen Examen haben kann. Das Ende ist in Sicht, die Approbation zum Greifen nahe, also halte ich stets die zweite Wange hin und lasse es mit mir machen. Erinnert ihr euch noch, wie ich mir in der Morgenbesprechung geschworen habe, mich niemals verheizen zu lassen? Das gilt immer noch, ich hoffe nur, dass bei mir der Knoten rechtzeitig platzt.

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