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  • Bericht
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  • Marlen Lauffer
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  • 02.09.2011

Das mündliche Physikum

Mit dem ersten Tag der Vorklinik arbeitet jeder Medizinstudent auf ein Ziel hin - das Physikum. Doch bis dahin ist es ein langer Weg auf dem einige Strapazen zu überstehen sind und an dessen Ende ein Lernmarathon steht, um genau dreimal 15 Minuten zu überstehen. Warum es einer ordentlichen Portion Glück dazu bedarf, berichtet dieser Artikel.

 

Vier gewinnt

"Es ist nicht schlimm, wenn ihr durch eine Klausur fallt - jeder fällt mal durch." Kurz vor Beginn des Studiums sind das die beruhigende Worte meines Esi-Tutors, der uns die ersten Tage im neuen Leben als Medizinstudenten betreut. Damit lässt es sich doch gleich entspannter in das Unileben starten, nach den langen Wochen des Bangens um den Erhalt des begehrten Studienplatzes. Als nächstes erklärt er uns, dass es ganz egal sei, mit welcher Note wir eine Klausur bestehen würden. Die Hauptsache sei, die Klausur bestanden zu haben und damit den Schein zu ergattern. Aha, um das "Scheine sammeln" geht es an der Uni also - das hatte ich erstmal kapiert, obwohl ich es bei diesem Studium mit so hohem NC nicht schlüssig fand.

Scheine sammeln bis der Arzt kommt

Die Aussage des Esi-Tutors sollte ich erst zwei Jahre später gänzlich begreifen. Trotzdem machten sich meine Kommilitonen und ich fleißig ans "Scheine sammeln", damit wir uns in zwei Jahren endlich zum Physikum anmelden und in das gelobte Land, die Klinik, einziehen konnten. Manche hielten sich sehr konkret an den "Rat" des Esi-Tutors und wiederholten einige Prüfungen, die meisten waren aber im "Scheine sammeln" sehr gut und erhielten alle gleich auf Anhieb. Es gab sogar Kommilitonen, die jede Klausur mit fast voller Punktzahl meisterten - und das über vier Semester. Ob diese Leistung von den Dozenten wirklich jemand zu schätzen wusste oder bemerkte, wage ich zu bezweifeln. Das Gefühl im richtigen Tempo Richtung Physikum unterwegs zu sein, vermittelten gute Noten aber allemal.

An einem Tag das Beste geben

Nach vier Semestern, die für die Fülle des Lernstoffs viel zu kurz waren, wurde es ernst: Die "Vorladung" zum Physikum erreichte mich per Einschreiben, in der mir das Datum und die Prüferkommission meiner mündlichen Physikumsprüfung mitgeteilt wurde. Ist man erstmal mit dem Ablauf einer solchen Prüfung vertraut, kommen schnell Zweifel und in jedem Fall ein bisschen Panik auf.
Wie soll ich den Anatomen innerhalb von 15 Minuten deutlich machen, dass ich von der Epiphyse im Gehirn bis zu den Vater-Pacini-Körperchen im kleinen Zeh, jede kleinste Struktur kenne? Auch in Biochemie sollen wir in 15 Minuten zeigen, dass nicht nur die Glykolyse, der Citratzyklus und die Atmungskette zu meinem Spezialgebiet gehört, sondern mir wirklich der ganze Stoffwechsel mit all seinen Regulationen bekannt ist und die Molekularbiologie mit ihren Feinheiten für mich ein Kinderspiel darstellt? Doch das ist noch nicht genug: In einer weiteren (viel zu kurzen) viertel Stunde, soll ich unter Beweis stellen, dass ich darüber Bescheid weiß, wie das Membranruhepotenzial entsteht, die Compliance der Lunge funktioniert, die Niere ihre Filtrationseigenschaften ändern kann und in welchen Abläufen die Basalganglien ihre Finger mit im Spiel haben. An diesem Punkt der Verzweiflung angekommen, wird mir der von allen so verhasste Bachelorstudiengang plötzlich allerliebst. Fand ich es vorher unmöglich, dass jede Klausur während den Semestern zur Endnote zählt, scheint mir dieses System nun viel gerechter zu sein. Denn man hat so mehrere Möglichkeiten eine schlechte Note wieder auszugleichen und die Examensnote hängt nicht nur von der Form an zwei Tagen nach zwei Jahren Studium ab.
Da alles Zaudern nicht weiter hilft und an der Prüfung kein anderer Weg in die Klinik vorbei führt, denke ich mir schließlich: "So schlimm kann es ja nicht werden..."

Der Zufall ist mit von der Partie

Es ist soweit: Ich sitze in der Prüfung und der Kollege neben mir scheint endlos lange über Thermoregulation ausgefragt zu werden. Ich freue mich gerade innerlich, dass dieser Kelch an mir vorbeigegangen ist, da werde auch schon selber gefragt. Mein Thema EEG ist leider auch nicht viel besser. Ich stammle etwas von Schlafphasen und Ableitungen, verschiedenen Wellen und Spindeln, zum VEP und SEP verliere ich auch noch einige Worte und frage mich: "Will der denn nicht noch etwas anderes wissen?". Doch das Thema wird nicht gewechselt und ich muss mich mit meinem Los zufrieden geben. "Am besten keine Gedanken daran verschwenden, ob das jetzt gut oder schlecht war, lieber auf das nächste Fach konzentrieren", denke ich mir.
In Biochemie soll ich ein Nukleotid zeichnen, das kann ich problemlos.
In diesem Auf und Ab geht es weiter: Fällt einem eine Frage in den Schoß und erscheint kinderleicht, trifft einem der Prüfer im nächsten Moment auch schon wieder an einem wunden Punkt. Da muss man Glück haben, dass einem die richtigen Fragen gestellt werden.
An dieser Stelle wird mir nun endlich klar, dass tatsächlich allein das "Scheine sammeln" wichtig ist und es niemanden interessiert, wie man sich die letzten zwei Jahre im Studium "geschlagen" hat.
Alles was zählt, sind diese fünfzehn Minuten pro Fach. In diesem Zusammenhang wird auch deutlich, wieso Studenten, die über vier Semester gute Leistungen zeigten, die Prüfung mit einer schlechten Note verlassen können und andere mit hervorragenden Noten verblüffen.
Abgesehen von einzelnen Studenten, die den kompletten Stoff von vorne bis hinten beherrschen, hat jeder Medizinstudent individuelle Lücken.
Findet der Prüfer aber genau diese heraus, wird es schwer, ihn davon zu überzeugen, dass der Rest des Stoffs einem deutlich besser liegt - zumal viele Prüfer innerhalb der vorgegebenen Zeit nur zu einem Thema Fragen stellen.

Prüfungsprotokolle helfen

Damit man von den Fragen der Prüfer nicht ständig kalt erwischt wird, gibt es Prüfungsprotokolle der letzten Jahre, die von den Prüflingen erstellt wurden. Dadurch ist es möglich, sich gezielt auf die Lieblingsfragen- und -themen der Prüfer besser einzustellen. In der Prüfungssituation verleiht einem das deutlich mehr Sicherheit.
Auch hier ist es wieder Zufall, einen Prüfer zu erwischen, der in den letzten Jahren immer das Gleiche gefragt hat oder von jemandem geprüft zu werden, der querbeet durch den gelernten Stoff Fragen stellt.

Inwieweit dies gerecht ist oder nicht, darüber lässt sich vermutlich streiten. Diejenigen, die diesmal die mündliche Prüfung bestanden haben, hatten entweder viel Glück oder ausreichend Können. Der Rest bekommt hoffentlich beim nächsten Mal die richtigen Fragen gestellt.

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