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  • 23.05.2016

Im Bikini bei minus 110 Grad Celsius – mein Kältekammer-Experiment

Sich schockfrosten lassen, ist der neuste Trend für die Gesundheit. Doch was bringt die eisige Kälte?

Allein der Gedanke an minus 110 Grad Celsius ist frosteinflößend. Wie sich solche Temperaturen auf nackter Haut anfühlen, erfahre ich am eigenen Leib bei einem Besuch in der Kältekammer. Die Ganzkörper-Kältetherapie (GKKT), wie wir sie heute kennen, gibt es seit den 1980er Jahren. Sie geht auf einen japanischen Arzt zurück, der sie bei Rheumatoider Arthritis einsetzte. Heute gibt es in Deutschland sechs Kältekammeranlagen, die auch für Selbstzahler frei zugänglich sind. Fünf Anlagen sind an Rehaeinrichtungen angeschlossen, eine steht in der Mannheimer Praxis für Tiefstkälte-Therapie, PHYSIO-110°Celsius, von Lorenz Schellhammer und Thomas Uhrig. Hier will ich den Kältekammer-Selbstversuch wagen.

 

Die Einsatzgebiete: Orthopädie, Psychiatrie, Neuro- und Rheumatologie

Bevor es mit dem Frieren losgeht, führt Lorenz Schellhammer ein ausführliches Anamnesegespräch mit mir. Dieses bildet die Grundlage für Dauer und Ablauf meiner Tiefstkältetherapie. Drei Minuten sind für einen Körper mit normaler Statur zumutbar. Patienten, die beispielsweise unter Angstanfällen leiden, beginnen mit 40 Sekunden. Zudem misst Lorenz Schellhammer vor und nach dem Kältekammerbesuch meinen Blutdruck und Puls und macht Aufnahmen mit der Wärmebildkamera. Diese dienen dazu, die Wärmeverteilung im Körper vorher und nachher zu vergleichen, und geben den Physiotherapeuten wichtige Hinweise: „Geht ein Patient mit Verspannungen im Nacken in die Kältekammer, sehen wir dort im Nachher-Bild eine stärkere Erwärmung“, erklärt Thomas Uhrig. „In der Kälte wird die Muskulatur eigentlich weniger gut durchblutet. Doch beispielsweise in verspannten Arealen sorgt der Körper weiterhin für eine optimale Durchblutung. Tritt man aus der Kältekammer heraus, kommt es zu einem thermischen Ausgleich, bei dem die Durchblutung im gesamten Körper angeregt wird. Diese Wärme kommt im Problembereich hinzu, sodass sich dieser in der Wärmebildkamera als stark durchblutet zeigt.“

 

Wärmebild vor der Kälteanwendung (Foto: Lorenz Schellhammer)

Wärmebild vor der Kälteanwendung (Foto: Lorenz Schellhammer)

 

Aber nicht nur bei Nacken- oder Rückenverspannungen hilft die Kältekammer. Auch Patienten mit chronischen Schmerzen, entzündlich-rheumatischen Gelenkerkrankungen, Arthrose, Fibromyalgie, Multipler Sklerose, stumpfen Gelenkverletzungen oder nach Schlaganfall kommen in Mannheim in die Kälte. Bei psychischen Problemen kann die GKKT ebenfalls eine Therapieoption sein. Laut einer Studie wirkt sich die Kälte positiv bei Depressionen und Angststörungen aus, was laut der Forscher daran liegen kann, dass das vegetative Nervensystem reguliert wird [2]. Eine ärztliche Verordnung ist im Übrigen für die GKKT nicht erforderlich.

Kontraindiziert ist der Besuch in der Kältekammer für Menschen mit herabgesetzter Vasokonstriktion, Diabetes mellitus oder einem Herzschrittmacher. Denn bei Kreislaufproblemen oder Gefäßbeeinträchtigungen sind der normale Schutz des Körpers in der Kälte und die anschließende Wiedererwärmung nicht gewährleistet.

Im Spitzensport dient die GKKT der Regeneration sowie der Motivations- und Leistungssteigerung. Eine Studie konnte zeigen, dass Ausdauersportler nach dem Besuch in der Kältekammer ein besseres Laufergebnis erzielten und stärker belastbar waren [3]. Auch in der Rehabilitation spielt die GKKT eine Rolle. Der Profifußballer, der vor mir aus der Kälte kommt, hat sich beispielsweise vor ein paar Wochen das rechte Außenband am Kniegelenk gerissen und die dorsale Kapsel verletzt. „Die Verletzung zeigt sich noch im Nachher-Bild mit der Wärmebildkamera“, sagt Thomas Uhrig. Die Region rund um die Läsion ist nach der GKKT stark durchblutet. Die betroffene Struktur ist ohne Bewegung gefordert, da alle Stoffwechselvorgänge beschleunigt sind.

 

Die Wirkung: schmerz- und entzündungshemmend

Die systemische Kälte wirkt sich auf den gesamten Organismus aus. Die antiphlogistische Wirkung lässt sich auf die veränderte Aktivität verschiedener Entzündungsmediatoren (Zytokinen und T-Lymphozyten) durch den Kältereiz zurückführen [1]. Die analgetische Wirkung entsteht aufgrund von verschiedenen Mechanismen. Die Kältestimulation soll zum Beispiel zu einer zentralen Desensibilisierung von Nozizeptoren und zu einer Endorphinausschüttung führen. Ab einer Hauttemperatur von zehn Grad sind die Schmerzsensoren blockiert – in der Kältekammer kühlt die Haut an den Extremitäten sogar auf fünf Grad ab. Die schmerzlindernde Wirkung ermöglicht es beispielsweise Patienten mit Rheuma, sich nach der GKKT schmerzfrei zu bewegen. „Das können wir dann zum Beispiel für die Physiotherapie nutzen“, erklärt Thomas Uhrig. Nach serieller Therapie hält die analgetische Wirkung laut einer Studie sogar langfristig an, da vermutlich das Schmerzgedächtnis beeinflusst wird [1]. Dadurch lässt sich wiederum der Arzneimittelverbrauch der Patienten reduzieren.

„Welche Prozesse genau im Körper während der GKKT ablaufen, ist bislang nicht komplett geklärt“, sagt Thomas Uhrig. Die aktuelle Studienlage ist dünn. Das liegt vermutlich nicht zuletzt daran, dass die Wirksamkeit hauptsächlich auf Beobachtung beruht – placebokontrollierte Studienmodelle sind schwierig.

 

Das Ziel: drei Minuten bei minus 110 Grad

Als alle Vorbereitungen für meinen Besuch in der Kältekammer abgeschlossen sind, stehe ich in Bikini und Winterschuhen, mit Stirnband, Handschuhen und Mundschutz vor der Kälteanlage. Sie ist in drei kleine Kammern unterteilt, die wie kleine Saunen aussehen und je ein Fenster haben, damit sich Patient und Therapeut zur Sicherheit sehen können.

Aufbau Kältekammer - Grafik: Physio minus 110 Grad Celsius

Aufbau Kältekammer (Quelle: Physio minus 110 Grad Celsius)

 

In der ersten Kammer herrschen minus 15 Grad. Hier soll sich mein Körper an die Kälte gewöhnen. Von rund 20 Grad Zimmertemperatur kommend, schocken mich bereits die ersten 35 Grad Temperaturunterschied gewaltig. Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, dass es noch kälter geht. Nach 30 Sekunden gehe ich für weitere 30 Sekunden in die zweite Kammer. Obwohl hier bereits minus 65 Grad herrschen und der Temperaturunterschied zur vorigen Kammer somit sogar 50 Grad beträgt, kommt es mir nicht sehr viel kälter vor. Schlussendlich trete ich durch die letzte Tür in minus 110 Grad. Mein erster Gedanke in der Tiefstkältekammer: Mein Ziel von drei Minuten halte ich niemals durch. Aber ich befolge tapfer die Anweisungen von Lorenz Schellhammer und gehe langsam im Kreis, mache ein paar Kniebeugen in Zeitlupe und kreise meine Schultern. Die Luftfeuchtigkeit liegt unter einem Prozent. Das macht die Kälte erträglich, würde aber auch dafür sorgen, dass Wasser, das man beispielsweise aus einem Glas ausschüttet, einfach verdampft, bevor es am Boden ankommt. Die Augen sind aber dank der Lipidschicht im Tränenfilm zum Glück weiterhin befeuchtet. Eine Armbanduhr wäre wahrscheinlich nach kurzer Zeit kaputt. Der menschliche Körper würde je nach Muskelanteil nach circa acht Minuten aufgeben.

Wie ein Körper auf die Temperaturen reagiert, lässt sich nicht vorhersagen. „Bis minus 70 Grad reagiert jeder Körper mit den gleichen genetisch festgelegten Mechanismen“, erklärte mir Lorenz Schellhammer im Voraus. Um nicht auszukühlen, leitet der Körper möglichst viel Blut aus der Peripherie in den Rumpf. Über das Gegenstromprinzip von parallel zueinander verlaufenden Arterien und Venen kann er so der Körpermitte Wärme zuführen. Dabei gibt das arterielle Blut aus den Extremitäten im „Vorbeifließen“ Wärme an das venöse Blut ab. Umgekehrt wird das arterielle Blut abgekühlt. Bei Kälte stellt der Körper die Gefäße eng (Vasokonstriktion), sodass dieser Wärmeaustausch besonders intensiv ist und kaum Wärme über die Peripherie abgegeben wird. „Für minus 110 Grad hat die Natur aber keinen eindeutigen Plan mitgegeben, und jeder Körper muss seine Strategie entwickeln.“ Da ich zierlich bin und wenig Fett und Muskeln habe, bin ich anfangs sehr unruhig. Wie soll das mein Körper schaffen? Aber ich fühle mich in guten Händen, und alles verläuft reibungslos. Nach ungefähr einer Minute sind meine Gedanken eingefroren. Ich komme zur Ruhe, konzentriere mich nur auf meinen Körper und die Bewegungen. Der fast schon meditative Zustand ist angenehm. Meine Körperhaare stellen sich auf, und meine Haut schmerzt leicht. Plötzlich sind die drei Minuten um, ich bin überrascht und erleichtert zugleich. Ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Ausgeglichen, entspannt und ganz ruhig komme ich aus der Kälte in die wohlige Wärme.

 

Die Nachwehen: Heißhunger und unendliche Müdigkeit

Nachdem ich wieder umgezogen bin, bespricht Thomas Uhrig mit mir meine Vorher-nachher-Wärmebildaufnahmen. Er lobt meine gleichmäßige Durchblutung, erkennt allerdings auf dem Nachher-Bild eine leicht erhöhte Durchblutung rund um das rechte Schulterblatt. Das könnte auf eine Verspannung hindeuten, denn grundsätzlich lassen sich die Aufnahmen auch zu diagnostischen Zwecken einsetzen. „Doch so weit sind wir noch nicht. Im Moment interpretieren wir die Bilder nur und stellen fest, dass Regionen, in denen Patienten Probleme haben, nach der GKKT stärker durchblutet sind“, sagt Thomas Uhrig.

 

Wärmebild nach der Kälteanwendung (Foto: Lorenz Schellhammer)

Wärmebild nach der Kälteanwendung (Foto: Lorenz Schellhammer)

 

Während unseres Gesprächs bekomme ich Gänsehaut und fange an zu frieren. Es stellt sich sogar leichter Schüttelfrost ein. „Das ist ganz normal“, beruhigt mich der Physiotherapeut. „Nachher werden Sie noch großen Hunger bekommen und müde werden, schließlich verbraucht der Körper für den thermischen Ausgleich 500 Kalorien.“ Und genauso trifft es ein: Zwei Stunden später sitze ich im Zug – zunächst nur frierend. Dann bekomme ich Heißhunger, was mich mangels Alternativen dazu bringt, eine Tafel Schokolade zu verdrücken. Ich verfalle in einen „Terminalschlaf“, schlafe zwei Stunden tief und fest und bekomme meine Augen für den Ausstieg aus dem Zug nur mit Müh und Not auf. Erst am späten Abend ist mir wieder warm. Vollkommen erschöpft gehe ich ins Bett und schlummere die ganze Nacht selig weiter.

 

Info:

Die Ganzkörper-Kältetherapie (GKKT) gibt es schon seit den 80er Jahren und geht auf einen japanischen Arzt T. Yamauchi zurück, der die Methode zur Behandlung der Rheumatischen Arthritis eingeführt hat.

Die sechs Kältekammern in Deutschland sind generell für Selbstzahler frei zugänglich und werden hauptsächlich von Rehakliniken betrieben. Generell übernehmen die Kassen die Kosten nicht und eine ärztliche Kontrolle ist nicht vorgeschrieben. Allerdings sollte vor einem Besuch in der Kältekammer ein ausführliches Anamnese-Gespräch, Messung von Blutdruck sowie Puls, ein Ausschluss von kontraindizierten Beschwerden stattfinden und möglichst mit dem behandelnden (Fach-)Arzt Rücksprache gehalten werden, ob der Patient geeignet ist. Bei einer seriellen Therapie sollten die Patienten von einer erfahrenen Person begleitet werden. Sportler entwickeln den Behandlungsplan und die Betreuung mit ihren Sportmedizinern/-physiotherapeuten.

 

Quellen:

(1) W. Papenfuß, Reduzierung des Arzneimittelverbrauchs nach Ganzkörperkältetherapie -110°C (GKKT), 2010

(2) W. Papenfuß, Reduzierung des Arzneimittelverbrauchs nach Ganzkörperkältetherapie -110°C (GKKT), 2010

(3) W. Papenfuß, Zum gegenwärtigen Stand der Erforschung und Nutzung von Ganzkörperkälteanwendungen, Eine selektive Literaturstudie, 2011

(4) W. Joch, S. Ückert, Wirkung einer Ganzkörperkälteapplikation (Kältekammer bei minus 110° C) auf die Ausdauerleistungsfähigkeit, 2013

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