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- Wiesemann, Biller-Andorna
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- 24.09.2007
Medizinethik - von Fall zu Fall: 7. Fallgeschichte
Tierversuche: Sektion von Fröschen im Medizinstudium
Im Physiologieunterricht sollen Medizinstudierende einen Frosch sezieren und dann Versuche zur Nervenleitung durchführen. Die Frösche sind vor Beginn des Kurses zu diesem Zweck getötet worden. Einige Medizinstudierende verweigern die Teilnahme an dem Versuch und führen Gewissensgründe für ihre Entscheidung an.
Wie ist diese Entscheidung zu beurteilen und wie soll mit ihr umgegangen werden?
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Lerntext zu diesem Thema
Einführung
Genauer hat der Streit um Tierexperimente zwei Einzelfragen zum Inhalt:
1. Sind Tierversuche zur Erzielung wichtiger Erkenntnisse überhaupt notwendig?
2. Sind sie – auch wenn ihr diesbezüglicher Vorteil erwiesen wäre – ethisch vertretbar?
Sind Tierversuche notwendig?
Ein großer Teil der Tierversuchsgegner ist der Auffassung, dass Erkenntnisse aus Tierversuchen für die menschliche Gesundheit keinen Nutzen erbringen könnten, weil sie auf den andersartigen Organismus des Menschen gar nicht anwendbar seien. So sei die Verträglichkeit von Substanzen von Spezies zu Spezies so verschieden, dass erst der klinische Versuch am Menschen erweisen könne, zu welchen anderen Tieren jeweilige Ähnlichkeiten oder Verschiedenheiten bestehen.
Unter Naturwissenschaftlern hingegen lehnt nur eine kleine Minderheit den Tierversuch aus diesem Grund als unbrauchbar ab. Hier wird auf die nahe evolutionäre Verwandtschaft von Säugetieren und Menschen verwiesen, auf vorhandene Kenntnisse, welche Tierarten sich zur Untersuchung bestimmter Fragestellungen eignen und welche nicht, und auf die bisherigen Erfolge der auf Tierversuche gestützten medizinischen Forschung.
Eine weitere wichtige Kritik stellt zwar nicht die Nützlichkeit, aber die Unersetzbarkeit des Tierversuchs infrage. Danach ließen sich die im Tierexperiment gewonnenen Erkenntnisse auch mit Forschungsmethoden gewinnen, die ohne Belastung lebender Tiere auskommen, z. B. mit In-vitro-Methoden (z. B. Zellkulturen) oder Computersimulationen. Dem wird wiederum entgegengehalten, dass die Aussagekraft von beispielsweise In-vitro-Methoden immer dann zu begrenzt ist,wenn komplexeWechselwirkungen im Gesamtorganismus erforscht werden sollen.
Die Nutzen- und Ersetzbarkeitsfrage kann hier nur angerissen werden. Wichtig ist festzuhalten, dass es sich um empirische Fragestellungen handelt, nicht um philosophisch-ethische. Dennoch kann die Antwort darauf von großem Gewicht für die ethische Stellungnahme sein. Sollten nämlich Tierversuche nutzlos oder aber ersetzbar sein, könnten sie ethisch wohl kaum verteidigt werden. (Auch müssten die betreffenden Versuche als ungesetzlich gelten.) Hingegen wäre der Schluss von der Nützlichkeit und Nichtersetzbarkeit von Tierversuchen auf ihre moralische Zulässigkeit vorschnell. Vielmehr wirft die tierexperimentelle Methode erst mit dem Erweis der Nützlichkeit ein diskussionswertes ethisches Problem auf: Dürfen Menschen gesundheitliche und wissensmäßige Vorteile für sich erzielen, zu denen sie nur um den Preis von Belastungen, Leiden und Sterben empfindungsfähiger Tiere gelangen können? Erzwungene Versuche an Menschen, die ja ebenfalls wissenschaftlichen Wert haben könnten, erscheinen uns immerhin als moralisch illegitim. Warum sollte das Leiden von Tieren im selben Kontext einer anderen Bewertung unterliegen?
Sind Tierversuche ethisch vertretbar?
Die neuere philosophische Tierrechtsdiskussion wird von zwei Lagern dominiert, die im Prinzip beide tierversuchskritisch eingestellt sind, sich aberdoch in der Rigorosität ihrer Einstellung unterscheiden: Das eine Lager ist das der utilitaristischen Tierethik und geht auf den australischen Philosophen Peter Singer zurück. Der Utilitarismus ist eine ethische Theorie, die den moralischen Wert einer Handlung nach ihrem Nutzen für die Beteiligten beurteilt. In Betracht gezogen werden dabei zumeist die Maximierung von Glück und Wohlbefinden und die Minimierung von Leiden.
Das andere Lager vertritt eine Position der Rechte, die von dem amerikanischen Philosophen Tom Regan ausgearbeitet wurde. In der utilitaristischen Tierethik sollen die Bedürfnisse von Tieren genauso berücksichtigt werden wie die von Menschen. Eine andere Einstellung wäre unfair und parteiisch, vergleichbar mit den Ideologien des Rassismus und Sexismus. Singer spricht von "Speziesismus“, der ungerechtfertigten Bevorzugung einer Gattung oder Spezies vor einer anderen. Kann man bei dieser Sichtweise dennoch für Tierversuche plädieren? Theoretisch, indem man abstreitet, dass Tiere in Tierversuchen leiden können. Doch diese Position wird heute kaum noch vertreten, und in keinem Fall von Tierrechtsethikern selbst. Dennoch werden bestimmte Tierversuche auch von utilitaristisch orientierten Tierethikern für berechtigt gehalten: Versuche nämlich, durch die in der Bilanz mehr Leiden verhindert, als im Versuch selbst verursacht wird (und für die es zur Erzielung der betreffenden Leidensminderung keine Alternative gibt). Die Regel, gleichermaßen an die Bedürfnisse von Menschen und Tieren zu denken, sei hier nicht verletzt.
Wir stehen bei diesem Rechtfertigungsmodell vor mehreren Problemen:
- Wie will man mit einiger Sicherheit den leidensmindernden Erfolg biomedizinischer Versuche vorhersagen? Schließlich müssten Versuche, deren Ergebnis bekannt wäre, nicht unternommen werden. Für viele Versuche gilt zudem, dass ihr eigener Beitrag zu einer neuen und erfolgreicheren Therapie abhängig ist vom Erfolg anderer Versuche, die gleichzeitig oder später unternommen werden. Neue Therapien werden im Normalfall durch konzertierte Forschungsarbeit und schrittweise entwickelt.
- Schwierigkeiten ergeben sich auch bei der Abwägung zwischen tierischem und menschlichem Leiden. Wann wissen wir, dass Leidenszustände von Menschen schwerer wiegen als solche von Tieren? Manche Theoretiker meinen, dass Menschen wegen ihrer starken sozialen Bindungen untereinander und ihrer komplexeren Mentalität durch Krankheit, Not oder Gefangenschaft mehr leiden, als es Tiere unter ähnlichen Umständen tun würden, andere bestreiten das.
- Zuletzt: Tierversuche in der biomedizinischen Forschung zielen nicht nur auf die Minderung von Leidenszuständen, sondern auch auf die Rettung und Verlängerung von Leben. Wie viele durch eine neue Therapie gewonnene Lebensjahre von Menschen rechtfertigen wie viel Tierleiden im Labor? Welcher gemeinsame Maßstab könnte hier angelegt werden? Letzteres Problem wurde in der utilitaristisch orientierten Tierethik bisher noch gar nicht in den Blick genommen. Aus den beiden ersten Problemen zieht man den Schluss, dass allenfalls ein kleinerer Teil der heute durchgeführten Tierversuche zu rechtfertigen wäre. Auch tritt man dafür ein, überhaupt keine Versuche mit Tieren zu unternehmen, die über Selbstbewusstsein und damit möglicherweise über ein ähnliches personales Ich wie Menschen verfügen – Tiere, zu denen in jedem Fall die Menschenaffen gerechnet werden.
Manche Autoren treten dafür ein, dass die schmerzlose Tötung von Tieren zu Tierversuchszwecken, sofern keine Leidensbelastungen vorausgehen und die Tiere keinen Personenstatus haben, problemlos sei. Die Tiere verfügten über keine echten Zukunftsvorstellungen, weshalb man, wenn man sie schmerzlos tötet, auch keine ihrer Interessen verletzen würde. Dieser Punkt ist jedoch innerhalb der Tierrechtsdebatte heftig umstritten. Vertreter der Position der Rechte postulieren, dass alle Lebewesen, die sich als Subjekt erleben können (die also über subjektiv erlebte Empfindungen, eine innere mentale Welt verfügen), den gleichen Wert besitzen.
Teils wird behauptet, dieser gleiche Wert wohne allen diesen Lebewesen inne, teils, wir sollten es so sehen, um Ungerechtigkeiten wie Ausbeutung und Sklaverei zu vermeiden. Zentrale Bedeutung für diese Position kommt dem argument from marginal cases (Argument der Grenzfälle) zu: Stärker geistig behinderte Menschen, aber auch Neugeborene und kleine Kinder würden über nicht mehr geistige Kräfte verfügen als manche Tiere.Wenn wir aber diesen Menschen den gleichenWert zuordnen wie allen anderen Menschen, müssten wir auch die Tiere in den Kreis der als gleichwertig Angesehenen aufnehmen.
An das Postulat des gleichenWertes aller empfindenden Lebewesen wird die Forderung nach gleichem Respekt für alle geknüpft. Kein Lebewesen dürfe nur zum Zweck für andere gebraucht oder für andere geopfert werden. Dies sei eine Rechtsposition, die auch dann nicht gebrochen werden dürfe, wenn mit der Opferung eines einzelnen Lebewesens vielen anderen geholfen werden kann. Aus der Position der Rechte ergibt sich eine klare rigorose Verurteilung des Tierversuchs; auch eine Verurteilung solcher Versuche, bei denen die Tiere "nur“ getötet werden.
Befürworter von Tierversuchen vertreten in der Regel die Position, dem Menschen und seinen Bedürfnissen sei ein höherer Wert beizumessen alsTieren. Aber auch innerhalb dieser Position lässt sich ein Argument gegen Tierversuche vorbringen, wie dies z. B. der Philosoph Immanuel Kant getan hat: Tierversuche könnten nämlich zur Verrohung des Menschen, zur Abstumpfung gegenüber dem Leid von Lebewesen führen und seien aus diesem Grund bedenklich. Bezüglich des moralischen Status von Tieren besteht kein gesellschaftlicher Konsens, besonders nicht in kulturübergreifender Hinsicht. Obwohl die dargestellten Tierrechtspositionen in der akademischen Debatte eine wichtige Rolle spielen, hat man sich in der Praxis zunächst weitgehend auf die Regel geeignet, Eingriffe an Tieren umso strenger zu beurteilen, je gravierender sie für die Tiere sind und je unerheblicher und verzichtbarer für den Menschen.
Die Kursthemen:
Verweigerung einer Transfusion aus religiösen Gründen - Patientenautonomie und Einwilligungsfähigkeit
Fall 1
Selektion eines Embryos bei In-vitro-Fertilisation - Reproduktionsmedizin
Fall 2
Thalassämie in Zypern - Genetisches Screening
Fall 3
Postmortalspende: Anfrage bei den Angehörigen Fall 4
Therapieabbruch bei einer Patientin im Wachkoma - Sterbehilfe und Sterbebegleitung
Fall 5
Suizidgefährdeter Physiker - Betreuung und Zwangsbehandlung in der Psychiatrie
Fall 6
Sektion von Fröschen im Medizinstudium - Kritik am Tierversuch und ethische Diskussion
Fall 7
Stammzelltherapie bei Parkinson - Forschung am Menschen
Fall 8
Gute klinische Praxis: Gynäkologische Untersuchung einer Patientin in Narkose
Fall 9
Die Inhalte dieses Angebots stammen aus dem Buch "Medizinethik" von Claudia Wiesemann und Nikola Biller-Andorno.