- Kurs
- |
- Wiesemann,Biller-Andorna
- |
- 24.09.2007
Medizinethik - von Fall zu Fall: 6. Fallgeschichte
Betreuung und Zwangsbehandlung: Suizidgefährdeter Physiker
Martin F. ist Physiker und arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter an einem Forschungsinstitut. Vor wenigen Tagen hatte er mit seiner Freundin seinen 36. Geburtstag gefeiert. Beim gemeinsamen Abendessen war er sehr nachdenklich geworden und hatte geäußert, dass 36 Jahre eigentlich genug seien und man der "ganzen Sache vielleicht besser ein Ende setzen sollte“. Den Rest des Abends war er schweigsam und zurückgezogen gewesen.
Die Freundin kennt Herrn F. seit nunmehr 4 Jahren und weiß, dass er mit Ende Zwanzig eine schwere Depression hatte, die zu einer Zwangseinweisung und einem mehrmonatigen Psychiatrieaufenthalt geführt hatte. Bei verschiedenen Anlässen hatte er ihr gegenüber immer wieder betont, die Psychiatrie solle sich nicht in die privaten Lebensentwürfe anderer Menschen einmischen. Mit Bitterkeit hatte er von seinen großen Schwierigkeiten berichtet, im Anschluss an seinen Klinikaufenthalt wieder einen Arbeitsplatzzu bekommen. Wer einmal in der Psychiatrie gewesen sei, der "habe sein Stigma weg“. Da mache er lieber seine Probleme mit sich selber aus.
Am Tag nach der Geburtstagsfeier geht Herr F. weder ans Telefon noch öffneter die Tür. Die Freundin macht sich große Sorgen und schildert die Situation einer befreundeten Allgemeinmedizinerin.
Welches weitere Vorgehen würdest du vorschlagen und warum?
-
Lerntext zu diesem Fall
In Deutschland ist der rechtliche Rahmen auf Bundesebene durch das Betreuungsgesetz (1992) oder – falls eine Straftat vorliegt – durch das StGB (§§ 20–21, §§ 63–64) und auf Länderebene durch Gesetze über Hilfen und Schutzmaßnahmen für psychisch Kranke (PsychKG) geregelt.
Betreuung
Den Begriff der Vormundschaft gibt es seit der Reform des § 1896, Abs.1 BGB im Jahre 1992 nur noch für Minderjährige. Ein psychisch erkrankter Mensch kann anderen Personen, z. B. Angehörigen, eine Vorsorgevollmacht erteilen. Ansonsten kann das Vormundschaftsgericht, das dem Amtsgericht angegliedert ist, einen Betreuer benennen, der als gesetzlicher Vertreter für bestimmte Aufgabenkreise fungiert. Dazu zählen beispielsweise die Verwaltung des Vermögens, die Bestimmung des Aufenthalts oder die Inanspruchnahme ärztlicher Behandlung. Jeder kann eine Betreuung für eine andere Person anregen. In manchen Fällen kommt es bei der Wahl des Betreuers zu Konflikten – wenn z. B. der betroffene Patient eine andere Person bevorzugt als die durch das Gericht benannte Person. Entschieden wird im Rahmen eines Betreuungsverfahrens, das sich auf eine persönliche Anhörung des Betroffenen sowie auf Gutachten von Sachverständigen stützt.
Zwangsbehandlung
Ein Verlust der Selbstbestimmbarkeit im Rahmen einer psychischen Erkrankung kann mit einer Selbst− oder Fremdgefährdung einhergehen. In diesem Fall muss der psychisch Erkrankte notfalls durch Freiheitsentzug daran gehindert werden, falls weniger eingreifende Maßnahmen nicht zum Erfolg führen. Das Gericht kann per einstweiliger Anordnung eine Unterbringung in einer Klinik für die Höchstdauer von sechs Wochen verfügen. Da es sich hier um einen massiven Eingriff in das Recht auf Selbstbestimmung handelt, muss dies gut und sorgfältig begründet sein.
Die häufigste Begründung für eine Zwangsbehandlung ist Suizidgefahr. Vorausgesetzt wird, dass dem Suizidwunsch eine Krankheit zu Grunde liegt, welche die Selbstbestimmungsfähigkeit der Person einschränkt. Die Zwangsbehandlung zielt darauf, diese Fähigkeit wiederherzustellen. Einige Ethiker gehen davon aus, dass jeder Suizidwunsch krankhaft ist und daher ein ärztliches Eingreifen immer gerechtfertigt ist. Dagegen argumentieren andere, dass es auch den wohl überlegten "Bilanzsuizid“ gebe, z. B. als Folge einer langjährigen unheilbaren Erkrankung, der nicht auf einer krankhaften Persönlichkeitsveränderung beruhe und daher ein fürsorgliches Eingreifen seitens der Medizin nicht rechtfertige.
In jedem Fall besteht ein deutlicher Konflikt zwischen der medizinischen Garantenpflicht zur Lebenserhaltung und dem Respekt vor der Autonomie des Betreffenden. Im Falle einer Fremdgefährdung konfligieren die individuelle Freiheit des Patienten mit dem Schutz der Gesellschaft, z. B. bei pädophilen Sexualstraftätern. Die Abwägung der Maßnahmen im Einzelfall erfordert von der betreffenden Ärztin bzw. dem Arzt eine sorgfältige und selbstkritische ethische Reflexion, die die Perspektive von Angehörigen und Pflegenden ebenso mit einbezieht wie die rechtlichen Rahmenbedingungen.
Dokument Erklärung des Weltärztebundes zu den ethischen Problemen bei Patienten mit psychischen Erkrankungen
Präambel
Patienten mit psychischen Erkrankungen sollten die gleiche Beachtung, Behandlung und medizinische Versorgung erfahren wie alle anderen Patienten. Der Psychiater hat als Arzt die gleichen Pflichten gegenüber seinen Patienten wie jeder andere Facharzt.So sollte die Rolle als Vermittler der Gesellschaft, die den Psychiatern zuweilen auferlegt wird, nicht dazu verleiten, ihre vorrangige Funktion als Angehörige der Heilberufe zu unterminieren bzw. zu untergraben.
Ethische Grundsätze
• Der Weltärztebund ist der Meinung, dass der mit der Psychiatrie und den psychisch Kranken verbundenen Diskriminierung ein für alle Mal ein Ende zu bereiten ist. Dieses Stigma hält Menschen in Not häufig davon ab, die Hilfe von Psychiatern in Anspruch zu nehmen, wodurch sich ihre Situation noch verschlimmert.
• Der Psychiater versucht, in seiner Therapie zu seinem Patienten eine Beziehung gegenseitigen Vertrauens aufzubauen. Er sollte den Patienten über den gesundheitlichen Zustand, die therapeutischen Methoden (einschließlich mögliche Alternativen und jeweilige Risiken) und über das erhoffte Ergebnis informieren.
• Die rechtliche Stellung eines Patienten mit einer psychischen Erkrankung, der nicht in der Lage ist, selbständig zu handeln und zu entscheiden, unterscheidet sich nicht von der anderer Patienten, die rechtlich unzurechnungsfähig sind. Er/sie sollte wie jeder andere Patient behandelt werden, der vor übergehend oder ständig unzurechnungsfähig ist. Patienten mit psychischen Erkrankungen, einschließlich Psychosen, sollten nicht automatisch für rechtlich unzurechnungsfähig erklärt werden. Ihr Urteil sollte in Bereichen respektiert werden, in denen sie Entscheidungen treffen können. Wenn der Kranke nicht fähig ist, eine Entscheidung bezüglich seiner medizinischen Versorgung zu treffen, dann sollte entsprechend dem geltenden Gesetz stellvertretend die Einwilligung eines bevollmächtigten Vertreters eingeholt werden.
• Zwangsbehandlungen sollten bei der Behandlung von Patienten mit psychischen Erkrankungen nur angewendet werden, wenn sie sich in einem kritischen gesundheitlichen Zustand befinden und sie eine Bedrohung für sich selbst oder für andere darstellen. Ärzte sollten Zwangseinweisungen nur in Ausnahmefällen vornehmen und auch nur, wenn und solange dies medizinisch erforderlich ist.
• Jeder Psychiater sollte seinen Patienten die nach seinem Kenntnisstand bestmögliche Therapie zuteil werden lassen und sie mit dem der Würde aller Menschen entsprechenden Respekt behandeln. Psychiater, die in einer Anstalt, beim Militär oder in Gefängnissen praktizieren, können in einen Konflikt geraten bezüglich ihrer Verantwortung gegenüber der Gesellschaft und ihrer Verpflichtung gegenüber dem Patienten. Sie müssen sich in erster Linie gegenüber ihren Patienten loyal verhalten. Wenn von dem Psychiater verlangt wird, als Vermittler der Gesellschaft zu fungieren anstatt die Interessen des Patienten bestmöglich zu vertreten, dann sollte der Patient über den Konflikt informiert werden, damit er sich nicht vom Arzt hintergangen fühlt oder ihn für von den Behörden vorgeschriebene Maßnahmen verantwortlich macht.
• Die ärztliche Schweigepflicht und die Privatsphäre aller Patienten sollte geschützt werden. Wenn es das Gesetz verlangt, sollte der Psychiater nur die relevanten Informationen bekanntgeben, und zwar nur der zuständigen Behörde. Dabei können Datenbanken, durch die der automatische Informationstransfer von einer zur anderen Behörde möglich ist, benutzt werden, vorausgesetzt, die ärztliche Schweigepflicht bleibt gewahrt.
• Ein Psychiater darf seine berufliche Position niemals dazu benutzen, die Würde oder die Menschenrechte eines Einzelnen oder einer Gruppe von Patienten zu verletzen und er sollte niemals zulassen, dass seine persönlichen Wünsche, Bedürfnisse, Gefühle, Vorurteile oder Ansichten die Behandlung beeinflussen. Auch darf der Psychiater keinen Vorteil aus seiner beruflichen Position oder aus der Verletzlichkeit eines Patienten ziehen, wodurch er seine Autorität missbrauchen würde, z. B. wenn er die Arbeitskraft eines Patienten für seine persönlichen Zwecke einsetzen oder sexuelle Beziehungen zu einem Patienten unterhalten würde.
[Quelle: Erklärung des Weltärztebundes zu den ethischen Problemen bei Patienten mit psychischen Erkrankungen. Verabschiedet von der 47. General− versammlung des Weltärztebundes in Bali, Indonesien, September 1995. In: Handbuch der Deklarationen des Weltärztebundes: Handbuch]
Die Kursthemen:
Verweigerung einer Transfusion aus religiösen Gründen - Patientenautonomie und Einwilligungsfähigkeit
Fall 1
Selektion eines Embryos bei In-vitro-Fertilisation - Reproduktionsmedizin
Fall 2
Thalassämie in Zypern - Genetisches Screening
Fall 3
Postmortalspende: Anfrage bei den Angehörigen Fall 4
Therapieabbruch bei einer Patientin im Wachkoma - Sterbehilfe und Sterbebegleitung
Fall 5
Suizidgefährdeter Physiker - Betreuung und Zwangsbehandlung in der Psychiatrie
Fall 6
Sektion von Fröschen im Medizinstudium - Kritik am Tierversuch und ethische Diskussion
Fall 7
Stammzelltherapie bei Parkinson - Forschung am Menschen
Fall 8
Gute klinische Praxis: Gynäkologische Untersuchung einer Patientin in Narkose
Fall 9
Die Inhalte dieses Angebots stammen aus dem Buch "Medizinethik" von Claudia Wiesemann und Nikola Biller-Andorno.