- Kurs
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- Wiesemann, Biller-Andorno
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- 24.09.2007
Medizinethik - von Fall zu Fall: 2. Fallgeschichte
Selektion eines Embryos bei In−vitro−Fertilisation
Das Ehepaar Lisa und Jack Nash ist seit längerer Zeit in einer reproduktions−medizinischen Klinik in Behandlung, weil es sich ein zweites Kind wünscht. Einige In−vitro−Fertilisationszyklen sind schon erfolglos verlaufen, aber das Ehepaar möchte trotzdem nicht aufgeben.
Ihre Tochter Molly – die ebenfalls mittels künstlicher Befruchtung zurWelt gekommen war – ist sechs Jahre alt. Vor wenigen Monaten haben die Eltern erfahren, dass Molly an der Fanconi−Anämie, einer schweren erblichen Beeinträchtigung des Knochenmarks, leidet und in der nahen Zukunft eine Knochenmarkzellspende benötigen wird.
Die Nashs bitten nun die Ärztin in der Reproduktionsmedizin, bei der In−vitro−Fertilisation einen Embryo auszuwählen, der 1. nicht die gleiche Erkrankung wie Molly hat und 2. seiner Schwester genetisch so nahe ist, dass er als Zellspender in Frage kommt. Stammzellen aus dem Nabelschnurblut des Neugeborenen könnten die todkranke Molly möglicherweise heilen.
Auf kritische Nachfragen hin beteuern die Eltern, sie hätten sich sowieso noch ein Kind gewünscht und wollten jetzt nur versuchen, zugleich ihrer Molly noch eine Heilungschance zu bieten. Sollte sich aber unter den Embryonen kein möglicher Spender befinden, dann würden sie irgendeinen der Embryos übertragen lassen, der nicht an der gleichen Immunschwäche leidet.
Wie ist die Selektion eines Embryos zu beurteilen?
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Lerntext zu diesem Fall
Künstliche Befruchtung und In-vitro-Fertilisation
Die hier skizzierten ethischen Fragen haben sich durch die Möglichkeiten der künstlichen Befruchtung und In-vitro-Fertilisation (IVF) noch weiter verschärft. Durchgeführt werden in Deutschland derzeit
• die künstliche Befruchtung mittels Spendersamen und
• die Befruchtung im Reagenzglas (In-vitro-Fertilisation).Hierzu zählt auch die Injektion von Samenzellen direkt in die Eizelle (Intrazytoplasmatische Spermieninjektion [ICSI]). IVF ist nach den Richtlinien der deutschen Ärzteschaft nur bei heterosexuellen Paaren in fester Partnerschaft erlaubt. Die künstliche Befruchtung ermöglicht prinzipiell – wie die Adoption – die gespaltene Elternschaft, d. h. ein Kind kann unterschiedliche genetisch-leibliche und soziale Eltern haben.
Anders als bei der Adoption kommt es aber bei der Befruchtung mittels Eizell- oder Embryospende – die in Deutschland übrigens nicht erlaubt sind – zusätzlich auch zu einer Auftrennung von genetischer und leiblicher Mutterschaft, d. h. die Frau, die das Kind austrägt, ist nicht die genetische Mutter des Kindes. Ein solches Verfahren ermöglicht in einigen Ländern (Italien, USA) Frauen eine Schwangerschaft, die z. B. durch Krankheit funktionsunfähige Eierstöcke haben. Schließlich kann IVF auch bei Leihmutterschaft zum Einsatz kommen: Dabei trägt eine Frau für die zukünftigen sozialen und ggf. auch genetischen Eltern ein Kind aus, u.U. auch gegen Bezahlung.
Adoption und Gametenspende (Eizell- oder Samenspende), aber vor allen Dingen die Leihmutterschaft, stellen die beteiligten Personen, d. h. die Eltern wie die Kinder, vor nicht unbeachtliche soziale und seelische Probleme. Sie bringt bis dahin unbekannte neue verwandtschaftliche Verhältnisse und damit belastende Rollenkonflikte mit sich. Diskutiert wird außerdem, ob Kinder ein Recht auf Kenntnis ihrer genetischen Abstammung haben. In Deutschland wird dies bejaht. Andere Länder erlauben dagegen nur die anonyme, meist kommerzielle Gametenspende. Eine Eizellspende gegen Entgelt erbringt in Spanien z. B. ca. 500 Euro; sie ist für die Frau jedoch mit teils nicht unerheblichen körperlichen Risiken durch die hormonelle Stimulation verbunden. In England werden deshalb nur solche Frauen gebeten, Eizellen zu spenden, die selbst eine IVF für sich in Anspruch nehmen. Die Leihmutterschaft, die in einigen Fällen in den USA praktiziert wurde, hat heftige Kritik auf sich gezogen, weil sie eine besonders schwere Form der Instrumentalisierung von meist sozial schlecht gestellten Frauen darstelle.
Gegeneinander abgewogen werden in allen diesen Fällen das Recht auf reproduktive Autonomie, d. h. auf Selbstbestimmung der Frau bzw. des Paares in Fragen der Fortpflanzung, gegen die Pflicht des Staates, seine Bürger (einschließlich der Kinder) vor Schaden und Instrumentalisierung zu bewahren. Ein "Recht auf ein gesundes Kind“ von dem gelegentlich – polemisch – in den Debatten die Rede ist, kann es jedoch nicht geben. Schon allein aus praktischen Gründen wäre ein solches Recht nicht realisierbar: Nur der kleinere Teil aller Formen kindlicher Behinderung ist derzeit pränatal diagnostizierbar.
Die Verbreitung der IVF führte zur Verabschiedung des Embryonenschutzgesetzes in Deutschland im Jahre 1990. Demnach ist die Befruchtung von Eizellen außerhalb des Körpers der Frau nur zum Zweck der künstlichen Befruchtung erlaubt. Es dürfen nicht mehr Embryonen hergestellt werden, als der Frau implantiert werden sollen. In Deutschland sind dies maximal drei, um die Häufigkeit von gefährlichen Mehrlingsschwangerschaften zu reduzieren. Als schützenswertes menschliches Leben wird jeder Embryo nach Verschmelzung der beiden Vorkerne definiert. Diese im internationalen Vergleich restriktiven Richtlinien sind in letzter Zeit kritisiert worden. Die Definition des Embryos führt dazu, dass in Deutschland Eizellen befruchtet werden, aber noch vor Beginn der Verschmelzung der Vorkerne eingefroren werden. Dies ist für die beteiligten Frauen ein sinnvolles Vorgehen, weil es die Anzahl der belastenden Eizellentnahmen verringert. Es führt allerdings dazu, dass in den IVF-Zentren befruchtete Eizellen lagern, die aller Wahrscheinlichkeit nach keiner IVF mehr zugeführt werden und nach einer gewissen Zeit durch Auftauen vernichtet werden. Die Verwendung dieser befruchteten Eizellen für die Herstellung embryonaler Stammzellen ist derzeit umstritten.
Präimplantationsdiagnostik (PID)
Anders als die Pränataldiagnostik (PND) wird die Präimplantationsdiagnostik (PID) mittels PCR-Technik gegenwärtig in Deutschland nicht praktiziert, weil das Embryonenschutzgesetz diese Option nach Meinung der Mehrheit der Interpreten nicht zulässt.Bei dieser Technik wird am dritten Tag nach der Befruchtung eine Zelle eines in vitro erzeugten Embryos für die DNA-Analyse entnommen. Ob der Embryo der Frau implantiert wird, hängt vom Ergebnis der Testung ab. Das deutsche Embryonenschutzgesetz sieht in jeder Zelle, die sich wiederum zu einem Embryo entwickeln könnte (totipotente Zelle), einen schutzwürdigen Embryo, dessen Verbrauch zu diagnostischen Zwecken unzulässig ist. Zum Zeitpunkt der Diagnostik könnten einzelne Zellen jedoch noch totipotent sein.
Die Zulassung dieser Technik wird von jenen gefordert, die es widersprüchlich finden, PND mit nachfolgendem Schwangerschaftsabbruch an einementwickelten Embryo zuzulassen, PID aber nicht. Die Präimplantationsdiagnostik ist in anderen Ländern zugelassen (z. B. in England, Belgien, USA) und wird am häufigsten bei X-chromosomal oder autosomal rezessiven Erkrankungen eingesetzt (z. B. bei Muskeldystrophie Duchenne, Mukoviszidose); auch die Diagnose dominanter Erkrankungen wie Morbus Huntington ist möglich. Sie kann allerdings nur zusammen mit der für die Frau sehr aufwändigen In-vitro-Fertilisation erfolgen und wird deshalb verhältnismäßig selten angewendet.
In den USA oder England wird PID allerdings auch schon als Screening-Methode bei IVF eingesetzt, um die nach wie vor nicht besonders guten Schwangerschaftsraten zu verbessern. Kritiker der PID befürchten, dass damit der "Züchtung“ von Menschen mit erwünschten Eigenschaften Tür und Tor geöffnet wird, wenn erst mit der vollständigen Erforschung des menschlichen Genoms das nötige Wissen dafür vorhanden ist. Aber auch hier gilt, was schon oben über Dammbruchargumente gesagt wurde: Sie beruhen oft auf Zukunftsprognosen, die zumindest als unsicher einzustufen sind. Zu bedenken ist in jedem Fall, dass sich gerade im Umgang mit menschlichem Leben in der Reproduktionsmedizin die Einstellung einer Gesellschaft zum Menschen und seiner Instrumentalisierbarkeit offenbart. Dies legt allen Beteiligten eine besondere Verantwortung auf. Das gilt auch für Reproduktionsmediziner, die in der Phase von der Eizellentnahme bis zur Implantation einer befruchteten Eizelle direkten Zugriff auf den Beginn menschlichen Lebens erhalten.
Die Kursthemen:
Verweigerung einer Transfusion aus religiösen Gründen - Patientenautonomie und Einwilligungsfähigkeit
Fall 1
Selektion eines Embryos bei In-vitro-Fertilisation - Reproduktionsmedizin
Fall 2
Thalassämie in Zypern - Genetisches Screening
Fall 3
Postmortalspende: Anfrage bei den Angehörigen Fall 4
Therapieabbruch bei einer Patientin im Wachkoma - Sterbehilfe und Sterbebegleitung
Fall 5
Suizidgefährdeter Physiker - Betreuung und Zwangsbehandlung in der Psychiatrie
Fall 6
Sektion von Fröschen im Medizinstudium - Kritik am Tierversuch und ethische Diskussion
Fall 7
Stammzelltherapie bei Parkinson - Forschung am Menschen
Fall 8
Gute klinische Praxis: Gynäkologische Untersuchung einer Patientin in Narkose
Fall 9
Die Inhalte dieses Angebots stammen aus dem Buch "Medizinethik" von Claudia Wiesemann und Nikola Biller-Andorno.