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  • Claudia Ley
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  • 20.01.2016

Mediquiz: Epileptischer Anfall

Die Ursache eines epileptischen Anfalls ist oft schwierig zu finden. Begebt euch auf Spurensuche und schaut, ob ihr Neuro-Checker seid.

 

©freshidea/Fotolia.com

 

Aus dem breiten Spektrum der Allgemeinmedizin darf ich euch heute einen neurologischen Fall vorstellen, bei dem allerdings auch internistische und sozialmedizinische Kenntnisse gefragt sind. Auf Los geht’s los: Vor uns sitzt Herr P., ein 59-jähriger hochgewachsener Mann mit einem rosazea-bedingtem rötlichen Gesicht, etwas über den Schnitt hinausgewachsenen kurzen Haaren in lässiger, aber noch gepflegter Kleidung. Er berichtet, vor circa einem Monat im Abstand von wenigen Tagen zwei epileptische Anfälle erlitten zu haben, weshalb er, nach anfänglichem Widerstreben, nach dem zweiten Anfall stationär aufgenommen und näher untersucht worden sei. Nun müsse er ein Medikament einnehmen, das die Anfälle verhindern soll. Außerdem habe man ihm gesagt, dass er sich 1-2 Wochen nach Entlassung zur Kontrolle wieder beim Hausarzt vorstellen müsse.

Welche zwei grundlegenden Formen epileptischer Anfälle unterscheidet man und welche Fragen stellt ihr dem Patient, um zu wissen, welche Form er erlitten hat?

Grundlegend unterscheidet man zwischen primär generalisierten und fokalen Anfällen. Die primär generalisierten Anfallsleiden werden nochmals in „grand mal“ und „petit mal“ unterteilt, wobei lediglich beim grand mal tonisch-klonische Anfälle auftreten, während unter petit mal z.B. die Absencen oder myoklonische Anfälle verstanden werden.

Um die Anfälle bei Herrn P. näher einzuordnen, ist es sinnvoll nach der Bewusstseinslage während des Anfalls, der motorischen Äußerung (die meist von anderen beobachtet wurde), Einnässen, Einkoten, Zungenbiss und dem Zustand nach dem Anfall zu fragen.


Generalisierte Anfälle gehen stets mit einem Bewusstseinsverlust einher und äußern sich am häufigsten im Sinne eines grand mal mit tonisch-klonischen Krämpfen der gesamten Muskulatur. Der Patient kann deshalb tatsächlich „wie ein Baum“ umfallen, manchmal wird auch über einen „Initialschrei“ berichtet, danach folgen nach einer tonischen Starre die typischen Zuckungen. Durch den Kontrollverlust kommt es häufig zum unbewussten Einnässen, Einkoten oder eben auch dem berühmten Zungenbiss. Nach dem Anfall folgt in der Regel der postikterische Dämmerzustand: die Betroffenen schlafen oft noch mehrere Stunden und erinnern sich erst wieder ab dem Zeitpunkt des Aufwachens an das Geschehen.

Bei fokalen Anfällen bleibt das Bewusstsein hingegen erhalten, es kommt aber ebenfalls zu tonisch-klonischen Zuckungen, allerdings nur von einer Körperpartie. Meist bleibt dieses Gebiet begrenzt, es kann jedoch auch zur Ausweitung auf den gesamten Körper und damit zu einem sekundären generalisierten Anfall kommen (Jackson-Anfall).

Herr P. schildert recht eindrücklich den typischen Ablauf eines generalisierten Anfalls, zu Einnässen, Einkoten oder Zungenbiss sei es jedoch nicht gekommen. Vor dem ersten Anfall habe er im Rahmen der Geburtstagsfeier eines Freunds quasi die Nacht durchgemacht und sei stark übermüdet gewesen. Deshalb sei er nach diesem Anfall auch noch gar nicht zum Arzt gegangen, da er sich die Ursache ja habe erklären können.

Wäre es tatsächlich bei einem einmaligen Anfall geblieben, wie hätte man diesen genannt? Welche Trigger und Auslöser hierfür kennt ihr?

Ein einmaliger epileptischer Anfall, der durch typische Trigger provoziert wurde, wird Gelegenheitsanfall genannt. Typisches Beispiel ist der Fieberkrampf bei Kindern. Weitere Auslöser können Schlafentzug, Alkoholintoxikation oder -entzug (bei Abhängigkeit), Flimmerlicht (Stroboskop), elektrische Reize im Rahmen eines Stromunfalls und Hypoglykämien sein. Einen solchen Gelegenheitsanfall erleiden immerhin 5% der Bevölkerung einmalig im Leben.

Was wollt ihr folgerichtig als nächstes in der Anamnese von Herrn P. wissen?

Von Schlafentzug hat uns der Patient ja schon berichtet, jetzt gilt es mit Fingerspitzengefühl nach einer möglichen Alkoholabhängigkeit zu fragen. Die Rosazea und der etwas nachlässige Haarschnitt könnten schließlich mögliche passende Indizien dafür sein.

Allerdings gibt Herr P. nur einen gelegentlichen Konsum von maximal 1-2 Bier pro Tag an, zwischenzeitlich sei er durchaus zur Abstinenz fähig. Die zweite Frage nach einem möglichen Diabetes mellitus wird ebenfalls verneint, die Blutwerte des stationären Aufenthalts, die uns vorliegen, bestätigen dies. Familiär ist keine Epilepsiekrankheit bekannt.


Welche weiteren Krankheiten oder Ereignisse können zu einer sekundären Epilepsie führen?

Jegliche strukturellen Änderungen des Gehirns können das Auftreten einer Epilepsie begünstigen. Ursache können Schädel-Hirn-Trauma, Apoplex, Sinusvenenthrombose, Hirnblutung, zerebrale Vaskulitis, eine zerebrale arteriovenöse Malformation, Enzephalitis, Multiple Sklerose oder ein Morbus Alzheimer sein.

Auch Tumorerkrankungen, insbesondere Hirnmetastasen gehen oft mit epileptischen Anfällen einher. Desweiteren können auch metabolische Entgleisungen, insbesondere der Elektrolyte oder Drogen- bzw. Medikamentenintoxikationen die Krampfschwelle soweit herabsetzen, dass es zu Anfällen kommt. Neben Alkohol sind hier noch Amphetamine, Kokain und LSD zu nennen.

Was gilt es bei der Medikamentenanamnese zu berücksichtigen?

Primär ist nach Änderung von Medikamenten bzw. deren Dosis in den letzten Wochen zu fragen. Gerade plötzliches Absetzten von Benzodiazepinen (die ja die Krampfschwelle per se anheben) kann einen epileptischen Anfall begünstigen. Ein Absenken der Krampfschwelle wird insbesondere durch trizyklische Antidepressiva, Neuroleptika oder Chinolone bewirkt.
Herr P. nahm aber bislang gar keine Medikamente ein, außer dem genannten Alkoholkonsum und Nikotin (30 PY) ist auch die Drogenanamnese leer.


Welche diagnostischen Maßnahmen wurden wohl zur weiteren Abklärung in der Klinik veranlasst?

Zum Ausschluss struktureller Veränderungen erfolgt in der Regel primär eine Bildgebung mittels CCT und MRT. Nach dem 15. Lebensjahr nimmt die Rate an malignen Grunderkrankungen als Ursache, wie Metastasen oder Apoplex, deutlich zu. Bei Herrn P. konnte dies erfreulicherweise weitgehend ausgeschlossen werden. Metabolische Störungen konnten sich in den umfangreichen laborchemischen Analysen, in denen in jedem Fall Blutbild, Nierenretentionsparameter, Elektrolyte und TSH enthalten sein sollten, nicht gefunden werden.


Fazit: Herr P. leidet nun an einer kryptogenen Epilepsie, sprich, ihre Ursache ist unbekannt. Der zweite Anfall ohne jegliche Triggerfaktoren im Vorfeld schließt einen Gelegenheitsanfall nahezu aus.

Welche weiteren sozialmedizinischen Konsequenzen hat diese Diagnose für den Patienten?

Ob unter medikamentöser antiepileptischer Therapie oder nicht: von ärztlicher Seite muss ein Fahrverbot ausgesprochen (und dokumentiert!) werden. Ob der Patient sich daran hält, unterliegt seiner Verantwortung, sollte es jedoch zu einem Schadensfall kommen, wird keine Versicherung für ihn aufkommen. Hätte unser Patient nur einen Anfall, also nach Ausschluss anderweitiger Ursachen einen sogenannten Gelegenheitsanfall erlitten, betrüge die Dauer des Fahrverbots zunächst 3 Monate und würde bei Anfallsfreiheit danach aufgehoben.

Durch den zweiten Anfall verlängert sich die Dauer allerdings auf ein Jahr, in denen sich kein weiterer Anfall ereignen darf. Werden die Antiepileptika versuchsweise wieder ausgeschlichen, sollte bis 3 Monate nach Absetzen erneut ein Fahrverbot ausgesprochen werden.


Herr P. arbeitete bisher als Bauarbeiter. Welche Tätigkeiten auf dem Bau darf er nun vorerst nicht mehr ausführen?

Solange das Fahrverbot besteht, sind natürlich alle Tätigkeiten, die das Führen eines Fahrzeugs erfordern, nicht möglich. Dies schließt auch das Bedienen großer Maschinen ein. Desweiteren darf der Betroffene am Arbeitsplatz kein Kontakt mit höheren Stromspannungen oder potentiell toxischen Substanzen haben, da dies im Rahmen eines Anfalls zu einer Eigengefährdung führen würde. Arbeiten in einer Höhe über 3m ist auf Grund der Sturzgefahr ebenfalls nicht mehr möglich.


Leider kann der Betrieb, in dem Herr P. bisher tätig war, den Patienten nicht in einem anderen, für ihn ungefährlichen Bereich, unterbringen.

Wie geht es nun für Herrn P. weiter?

Zunächst wird der Patient durch uns krank geschrieben. Da eine Weiterbeschäftigung am bisherigen Arbeitsplatz leider nicht möglich ist und eine Aufhebung des Fahrverbots frühestens nach einem Jahr zu erwarten wäre, bleibt eigentlich nur ein Stellenwechsel bzw. eine Umschulung. Herr P. kann hierzu nur müde lächeln: jetzt mit 59 Jahren kurz vor der Rente noch umschulen? Und wer würde ihn dann noch einstellen? Eine Wiedereingliederung im Sinne einer Rehabilitation kam unter diesen Gesichtspunkten ebenfalls nicht in Frage. Es bliebe jedoch die Möglichkeit, einen Antrag auf Anerkennung des Schwerbehindertengrads zu stellen: bei einer Einstufung über 50 Grad hätte Herr P. die Möglichkeit, früher in Rente zu gehen, ohne hierdurch finanziell schlechter da zu stehen.

 

Epileptische Anfälle  GdB/GdS 
Sehr selten: generalisierte (große) und komplex fokale Anfälle mit Pausen von mehr als einem Jahr; kleine und einfach-fokale Anfälle mit Pausen von Monaten 40
Selten: generalisierte (große) und komplex fokale Anfälle mit Pausen von Monaten; kleine und einfach-fokale Anfälle mit Pausen von Wochen 50-60
Mittlere Häufigkeit: generalisierte (große) und komplex fokale Anfälle mit Pausen von Wochen; kleine und einfach-fokale Anfälle mit Pausen von Tagen 60-80
Häufig: generalisierte (große) und komplex fokale Anfälle wöchentlich oder Serien von generalisierten Krampfanfällen; kleine und einfach-fokale Anfälle täglich 90-100
Nach weiteren drei Jahren Anfallsfreiheit bei weiterer antikonvulsiver Behandlung 30

 Quelle: http://www.betanet.de/betanet/soziales_recht/Epilepsie---Schwerbehinderung-561.html

 

Zusätzlich könnte eine Erwerbsminderungsrente beantragt werden, insbesondere dann, falls trotz Anerkennung der Schwerbehinderung keine Frühberentung in absehbarer Zeit möglich sein sollte. Da für derlei Anträge aber eine solide Grundlage in Form eines neurologischen Gutachtens erforderlich ist, wird sich Herr P. zunächst noch bei einem niedergelassenen Neurologen vorstellen und auch von diesem in sozialmedizinischer Hinsicht beraten lassen.
Herr P. will nun wissen, wie es denn mit der antiepileptischen Medikation weitergeht. Seit er diese einnehme, sei ihm öfters etwas schwindelig, manchmal habe er aber auch wieder dieses "Vorgefühl", wie damals kurz vor den Anfällen.

Welches Antiepileptikum wäre bei generalisierten tonisch-klonischen Anfällen die erste Wahl?

Erste Wahl wäre das altbewährte und relativ gut verträgliche Valproat. Die Betonung liegt auf "relativ", denn fast alle Antikonvulsiva verursachen spürbare Nebenwirkungen. Am häufigsten werden zentralnervöse Störungen wie Schwindel, Müdigkeit, Ataxie und Doppelbilder beschrieben, die sich im Laufe der Therapie durch Toleranzentwicklung aber oft bessern. Gastrointestinal kann es zu Übelkeit und Erbrechen kommen, auch die Haut kann von Überempfindlichkeitsreaktionen bis hin zum Stevens-Johnson-Syndrom betroffen sein.

Welche Laborparameter müssen insbesondere zu Beginn und unter Aufdosierung einer antiepileptischen Medikation kontrolliert werden?

Hämatologisch können Leuko- und Thrombopenien auftreten, die zum Absetzen des Medikaments zwingen können. Desweiteren müssen wegen der hepatotoxischen Wirkung des Substanzen die Transaminasen kontrolliert werden, hier wird ein Anstieg bis zum 2-3fachen der Norm noch toleriert, bevor auch hier die weitere Medikation gestoppt werden muss. Nicht selten wird auch eine Elektrolytentgleisung im Sinne einer Hyponatriämie beobachtet, welche per se wiederum Anfälle provozieren kann. Bei Herrn P. wurde Levetiracetam verordnet, ein Präparat, dass zwar eher die erste Wahl bei fokalen Anfällen darstellt, auf Grund der besseren Verträglichkeit aber gerade bei älteren Patienten dem Valproat gerne vorgezogen wird.

Die o.g. Laborparameter, die in unserer Praxis kontrolliert wurden, fielen erfreulicherweise alle normwertig aus, sodass ich mit dem Patienten eine weitere Aufdosierung von 1000mg auf 1500mg täglich vereinbarte, da weiterhin fraglich präkonvulsive Auren berichtet wurden.

Was genau versteht man hierunter?

Als Aura bezeichnet man zu Beginn eines Anfalls auftretende Phänomene, die der Patient noch bewusst wahrnimmt. Typisch sind z.B. vom Abdomen her aufsteigende Sensationen oder déjà-vu-Erlebnisse. Eine genaue Beschreibung fällt oft schwer, allerdings berichtete Herr P. zu Anfang, immer wieder das Gefühl gehabt zu haben, kurz vor einem Anfall zu stehen, was als mögliche Aura gewertet werden muss (aber natürlich auch eine zentralnervöse Nebenwirkung des Levetiracetams sein kann).

Vorausgesetzt, Herr P. bliebe nun unter seiner Medikation anfallsfrei, ab wann wäre, falls vom Patienten gewünscht, ein Absetzversuch möglich?

Voraussetzung für ein Ausschleichen und Absetzten der antikonvulsiven Therapie ist eine durchgehende Anfallsfreiheit über mindestens zwei Jahre. In dieser Zeit dürfen auch im EEG keine epilepsietypischen Veränderungen nachweisbar sein. Etwas anders verhält es sich bei einer Epilepsie, die durch eine zerebrale Läsion wie Schädel-Hirn-Trauma oder Operation verursacht wurde: hier kann ggf. bereits nach 6 Monaten ein Absetzversuch unternommen werden. Antiepileptika werden stets langsam über mehrere Monate ausgeschlichen, nie abrupt abgesetzt.

Ich bin in jedem Fall sehr gespannt, wie die Situation bei Herrn P. in zwei Jahren aussehen wird. In der Hoffnung, auch bei euch eine gewisse Neugier für das Thema Epilepsie geweckt und euch mit einigen wissenswerten Infos versorgt zu haben
grüßt euch recht herzlich aus der hausärztlichen Praxis
eure Claudia

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