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  • Bericht
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  • Anika Wolf
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  • 09.04.2013

Das Anästhesie-Praktikum

Es kann jeden Tag und überall völlig unerwartet passieren. Vor uns krachen zwei Autos aufeinander. Der betagte Nachbar klappt plötzlich im Garten zusammen. Der Gärtner fällt vom Baum und rührt sich nicht mehr. Damit Gießener Medizinstudenten im Notfall vernünftig Leben retten können, gibt es über das erste und zweite klinische Semester verteilt drei Termine zum Anästhesie-Praktikum.

Weil wir alle verschiedene Vorkenntnisse haben, gibt es zuerst das Praktikum Basic Life Support. Hier werden erst einmal alle auf den gleichen Stand gebracht. Wenn schon ein Medizinstudent nicht vernünftig Erste Hilfe leisten kann, wer dann? Oder wie unser Praktikumsleiter gleich klar gemacht hat: „Solange ich dieses Praktikum leite, geht hier keiner raus, der nicht vernünftig reanimieren kann.“

Zuerst wird noch einmal aufgefrischt, wie man vorgeht, wenn man eine leblose Person findet. Auch wenn der Erste-Hilfe-Kurs der Vorklinik schon eine Zeit her ist, kommt doch recht schnell wieder ins Gedächtnis, was zu tun ist. Eigensicherung, Überblick verschaffen, Person ansprechen.

Und wie das in einem Praktikum so ist, geben unsere Personen, beziehungsweise Puppen, natürlich keine Antwort, denn dann wäre ja das reanimieren hinfällig. Also weiter im Geschehen. Um die Puppe zu retten, holen wir uns Hilfe. Wie praktisch, dass fünf Kommilitonen in der Nähe sind. Jemand setzt einen Notruf ab, jemand anderes kommt als zweiter Helfer zur Puppe. Atmung überprüfen: nichts. Wir müssen mit der Herzdruckmassage anfangen. Helfer 2 drückt kräftig auf den Brustkorb der Puppe. Damit es auch tief genug wird, zeigt ein kleiner angeschlossener Bildschirm an, ob man fest genug und an der richtigen Stelle drückt. Zur richtigen Frequenz eine kleine Eselsbrücke, die wir im Erste-Hilfe-Kurs gelernt haben: Tempo 100 ist perfekt, also 100 Mal pro Minute drücken. Im gleichen Tempo ist das Lied „Stayin‘ alive“ von den BeeGees, wahlweise kann man aber auch „Highway to hell“ von ACDC nehmen.

 

Verzweiflung mit dem C-Griff

Nachdem Helfer 2 nun 30 Mal den Brustkorb komprimiert hat, ist Helfer 1 an der Reihe und muss die Puppe zweimal beatmen. Praktischerweise liegt schon ein Ambu-Beutel am Unfallort! Jetzt ist es natürlich sehr knifflig, in zwei Sekunden zwei Atemstöße hinzubekommen, wenn man schon etwa zehnmal solange braucht, um die Gesichtsmaske samt Kopf des Patienten richtig zu positionieren. Dazu muss man mit dem sogenannten C-Griff nämlich mit der linken Hand gleichzeitig den Kopf überstrecken, mit Daumen und Zeigefinger die Maske dicht auf das Gesicht drücken und mit den anderen Fingern das Kinn nach oben ziehen, während man mit der rechten Hand den Beutel bedient. Und das ist mindestens so schwierig wie es klingt. Jedes Mal gibt es mindestens eine Stelle, an der die Maske nicht dicht sitzt und die Luft, die zum Beatmen gedacht ist, also in den Patienten rein soll, einfach nach außen zischt. Nachdem die Maske dann dicht ist, also nach gefühlten 30 Sekunden, und wir irgendwie zwei Atemstöße in die Puppe bekommen haben, kann Helfer zwei wieder mit der Druckmassage anfangen.

Ziemlich schnell haben wir begriffen, dass es gut ist, die Maske die ganze Zeit über in derselben Position zu halten, um nicht beim nächsten Mal wieder mit dem Dichtigkeits-Problem zu kämpfen. Das ist aber auch leichter gesagt als getan, da das nach einer Zeit wirklich anstrengend ist. Nach fünf Zyklen wechseln die beiden Helfer ihre Positionen. Jeder der Gruppe darf Druckmassage und Beatmung üben. Leben retten ist verdammt anstrengend. Warum hat unsere Gruppe so ein Praktikum immer, wenn draußen 35 Grad sind?

Eine Abschlussprüfung soll zeigen, ob alle das Kursziel erreicht haben und vernünftig reanimieren können. Die Puppe wird an einen Computer angeschlossen und in Zweierteams muss jeder zeigen, dass er mindestens 80 Prozent der Druckmassage und der Beatmungen richtig macht. Zum Glück konnten wir alle den anwesenden Arzt überzeugen.

 

Retten oder vom Rettungskoffer erschlagen werden?

Praktikum Nummer zwei ist schon Leben retten für Fortgeschrittene: Advanced Life Support. Hier geht es gleich mit einer kurzen schriftlichen Prüfung los, die aber halb so wild ist. Zuerst üben wir an Puppenköpfen intubieren. Anschließend geht es richtig los. Da wir ja nun „advanced“ sind, sind wir nicht mehr als Ersthelfer unterwegs, sondern mit einem Defibrillator und einem riesigen Rettungsdienst-Rucksack. Und riesig meine ich wörtlich: groß und bestimmt halb so schwer wie ich selbst. Als ich bei unserem ersten Einsatz zu schnell um die Kurve gehe, wirft er mich fast aus der Bahn und nach hinten lehnen sollte man sich damit auch nicht.

Wir sind zu dritt unterwegs und sprechen jeweils ab, wer die Leitung beim nächsten Einsatz übernimmt und die Aktionen koordiniert. Unser Patient ist wieder die lebensmüde Puppe, die schon den nächsten Unfall hat, kaum dass wir den Raum verlassen haben. Erst liegt sie leblos auf dem Boden. Wir schließen den Defibrillator an und sehen, dass sie Kammerflimmern hat. Zwei Helfer reanimieren. Irgendwie müssen wir es aber auch noch hinbekommen, dabei einen Zugang für die Medikamente zu legen und das Intubationsset einsatzbereit zu machen. Zum Glück sind wir zu dritt.

Als wir zum zweiten Mal den Raum betreten hat sich die Puppe ein Kabel um den Hals geschlungen und sich fast erwürgt. Als wir sie hinlegen wollen, fällt plötzlich das Bein ab. Kleiner Kollateralschaden… Und wieder reanimieren.

Beim dritten Mal hat sich die Puppe beim Essen verschluckt und liegt wieder leblos am Boden. Beim Intubieren will der Tubus beim besten Willen nicht in die Luftröhre. Ein weiterer Blick und ein Griff mit der Zange zeigt, dass ein großer Tupfer im Hals steckt. Daran hat sich die Puppe also verschluckt. Da der Herzrhythmus noch regelmäßig ist, müssen wir diesmal nicht reanimieren. Wir überlegen also, was wir als nächstes tun, als wir ein seltsames Geräusch hören. Was war das? Und noch einmal. Unsere Puppe würgt! Trotz Faszination darüber, dass die Puppe sogar Geräusche macht, müssen wir uns schnell etwas überlegen. Zum Glück können wir auch dieses Mal ihr Leben retten.

 

Willkommen in der Narkoseabteilung

Bei Termin Nummer drei liegt die Puppe schon als Patient im Einleitungssaal vor dem OP. Heute sollen wir lernen, wie man eine Narkose macht. Im Nebenraum wird die Puppe ferngesteuert, sodass sie diverse Komplikationen bieten kann und auf unsere Medikamente reagiert. Eine „Schwester“ übergibt uns den Patienten samt Akte. Wir beginnen vorschriftsmäßig damit, die Identität des Patienten zu überprüfen. Voller Überzeugung behauptet die Puppe, nein, sie sei nicht die Frau Schmidt, sondern die Frau Müller. Glücklicherweise hat die Schwester uns schon bestätigt, dass sie die Richtige ist, aber unter Demenz leidet.

Wir schauen uns die Vorerkrankungen an und legen fest, welche Medikamente wir für die Narkose benutzen möchten. Die Chirurgen klopfen an die Tür und fragen, wie lange es denn noch dauert, sie wollten endlich mit der OP anfangen. Ruhig bleiben. Die müssen sowieso auf uns warten. Wir legen den Patienten in einen Tiefschlaf und können intubieren. Plötzlich rauscht der Blutdruck nach unten. Was gibt man da nochmal für ein Medikament? Ach ja, Akrinor, da liegt es ja. Und wie wird das noch gleich dosiert? Der Blutdruck sinkt immer weiter. Schnell, weiß das noch einer? Wir spritzen die richtige Menge und der Patient wird wieder stabil. Der Rest der Narkose läuft problemlos und der Patient hat überlebt.

Wir haben nun wieder einmal fleißig geübt, um auch für unsere richtigen Patienten gut gewappnet zu sein. Und wieder einmal haben wir ein bisschen mehr Sicherheit, den Autofahrern, betagten Nachbarn und fallenden Gärtnern auch bei einem echten Notfall helfen zu können.

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