Die degenerative Myelopathie des Hundes

Die degenerative Myelopathie ist eine chronisch fortschreitende Rückenmarkserkrankung bei älteren Hunden – v. a. beim deutschen Schäferhund. Bisher konnte die Erkrankung im Einzelfall entweder nur als klinische Verdachtsdiagnose oder nach umfangreichen Untersuchungen als Ausschlussdiagnose gestellt werden. Seit 2009 ist nun ein Gentest verfügbar. Ist die Erkrankung jetzt sicher nachzuweisen oder bleibt die Diagnose weiter eine Herausforderung?

Bei der degenerativen Myelopathie handelt es sich um eine progressiv verlaufende, nicht heilbare neurologische Erkrankung des Rückenmarks beim älteren Hund. Sie wurde in der veterinärmedizinischen Fachliteratur erstmals 1973 von Averill bei 22 Hunden beschrieben. Zwanzig der 22 dort sezierten Hunde waren Deutsche Schäferhunde, sodass die Krankheit deswegen initial auch als „Schäferhund-Myelopathie” bezeichnet wurde.

Seitdem wurde die degenerative Myelopathie aber auch regelmäßig bei anderen Hunderassen nachgewiesen, wie z. B. Hovawart, Berner Sennenhund, Collie, Pembroke Welsh Corgi, Siberian Husky, Boxer, Rhodesian Ridgeback und Chesapeake Bay Retriever.

Lange wurde angenommen, dass ausschließlich große Hunderassen erkranken. Theoretisch kann aber jede Rasse – auch kleine – betroffen sein. Im eigenen Patientengut wurde die Erkrankung zusätzlich z. B. beim Weimaraner, Wachtelhund, Pudel, Jack Russell Terrier und bei Mischlingen diagnostiziert. Auch Katzen können an degenerativer Myelopathie erkranken.

Nachdem lange über die Ursache gerätselt wurde, ist heute bekannt, dass es sich zumindest bei einigen Rassen um eine genetische Erkrankung handelt. Seit über einem Jahr existiert ein Gentest, der zunächst nur in den USA angeboten wurde. Mittlerweile kann der Test auch in Deutschland ausgewertet werden.

Klinisches Bild

Betroffen sind fast ausnahmslos Hunde ab einem Alter von 8-10 Jahren.

Werden jüngere Patienten mit identischen Symptomen vorgestellt, muss unbedingt nach einer anderen Ursache geforscht werden.

Eine Geschlechtsprädisposition besteht nicht.

Klinisch-neurologische Untersuchung

Das Kardinalsymptom ist zunächst eine Ataxie der Hintergliedmaßen.

(Ataxie: Läsionen in den afferenten sensiblen und propriozeptiven Bahnen).

Sie ist progressiv und mit Umfallen oder Stolpern bei Wendungen, spontanem Überköten und später auch mit Zehenschleifen verbunden.

▸ Propriopzeption

Die propriozeptiven Tests werden verzögert ausgeführt.

▸ Reflexe

  • Die spinalen Reflexe der Hintergliedmaßen und der Muskeltonus sind gesteigert, häufig kombiniert mit einem positiven gekreuzten Flexor-Extensor-Reflex (s. Kasten).
  • Analreflex und Bulbo-/Vulvourethralreflex sind normal.

Der Rutentonus ist normal

▸ Muskelatrophie

Eine neurogene Muskelatrophie wird nicht beobachtet.

Die Erkrankung muss also im oberen Motoneuron (OMN) der Hintergliedmaßen (Th3-L3) lokalisiert werden.

▸ Schmerzempfindung

Die Patienten haben keine Schmerzen, da es sich um eine intramedulläre Läsion handelt.

Krankheitsverlauf

Im weiteren Verlauf gesellt sich zur Ataxie eine Parese der Hintergliedmaßen.

(Parese: Läsionen in den spinalen Motoneuronen oder efferenten motorischen Bahnen).

Wie schon erwähnt ist der klinische Verlauf chronisch progressiv, nach eigenen Erfahrungen sind aber auch kleinere Erkrankungsschübe möglich. Meistens sind beide Hintergliedmaßen gleichmäßig betroffen, einige Patienten zeigen aber eine Seitenbetonung.

Es entwickelt sich zunehmend eine Paraparese mit Lokalisation im unteren Motoneuron (UMN) der Hintergliedmaßen (L4-S3).

▸ Reflexe

  •  Klassischerweise fällt dabei zuerst der Patellarsehnenreflex aus.
  • Später können auch die anderen spinalen Reflexe der Hintergliedmaßen herabgesetzt sein.
  • Harn- und Kotabsatz sowie der Rutentonus bleiben aber sehr lange normal.

Da die erkrankten Hunde in diesem Stadium i. d. R. nicht mehr alleine aufstehen können bzw. ohne Unterstützung nicht mehr gehfähig sind, erfolgt üblicherweise die Euthanasie.

Cave: Bei älteren Hunden ist der Patellarsehnenreflex öfter auch ohne erklärbare Ursache herabgesetzt.

Werden die Patienten von ihren Besitzern dennoch weiter am Leben gelassen, können im Endstadium der Erkrankung auch die Vordergliedmaßen neurologische Ausfälle entwickeln.

Pathologie

In der makroskopischen Ansicht zeigt sich je nach Erkrankungsstadium ein mehr oder weniger stark reduzierter Rückenmarksquerschnitt, der durch Verlust von Nervengewebe in der weißen Substanz des Rückenmarkes erklärt werden kann; die graue Substanz ist nicht betroffen.

Histopathologisch sind sowohl die Nervenhüllen (Aufquellen der Myelinscheide, Demyelinisierung) als auch die Axone (Axondegeneration bis zu völligem Axonverlust, axonale Sphäroide) erkrankt. In den betroffenen Arealen folgt eine sekundäre Astrogliose. Abgesehen von vereinzelten Makrophagen werden keine Leukozyten gefunden.

Besonders ausgeprägt sind die Läsionen in den Rückenmarkssegmenten der hinteren Brustwirbelsäule und vorderen Lendenwirbelsäule. Es erkranken sowohl die aufsteigenden als auch absteigenden Nervenbahnen, hauptsächlich im dorsolateralen Funiculus. Allerdings ist kein typisches Verteilungsmuster auszumachen, das für alle Rassen und Individuen gilt.

Im weit fortgeschrittenen Krankheitsstadium werden auch degenerative Veränderungen der ventralen und dorsalen lumbalen Spinalwurzeln gefunden, teilweise auch leichtgradige Läsionen in den Neuronen der grauen Substanz der vorderen Lumbalschwellung (Chromatolyse, Gliose). In einer Veröffentlichung wurden auch Veränderungen in einigen Kerngebieten des Gehirns beschrieben, die wahrscheinlich als sekundär degenerative Läsionen interpretiert werden müssen.

Pathogenese

2009 wurde bei an degenerativer Myelopathie erkrankten Pembroke Welsh Corgis eine Mutation im kaninen SOD1-Gen (SOD1:c.188G>A) nachgewiesen. Die gleiche Mutation führt – neben anderen Ursachen – beim Menschen zur Ausbildung der amyotrophen Lateralsklerose (ALS). Das SOD1-Gen kodiert die Superoxid-Dismutase, deren Aufgabe darin besteht, die Zellen im Rückenmark vor freien Sauerstoffradikalen zu schützen.  

Diagnose

Bildgebung

Zum Ausschluss von kompressiven Myelopathien oder strukturellen intramedullären Läsionen (z. B. Entzündung, Syrinx, Neoplasie, Zysten etc.).

Eine direkte Diagnose mittels bildgebender Verfahren (MRT, CT, Myelografie, Myelo-CT) ist momentan nicht möglich. Es gibt aber erste Erkenntnisse darüber, dass die demyelinisierten Rückenmarksareale mit besonders starken Hochfeld-Kernspintomografen (MRT, 3-7 Tesla) in den transversalen Rückenmarksprojektionen evtl. direkt erkannt werden können. Hier bleibt die weitere Entwicklung abzuwarten, denn es ist noch nicht klar, ob und in welchem Krankheitsstadium die Veränderungen im Rückenmark gesehen werden können und ob dies dann bei allen Rassen unter klinischen Bedingungen möglich ist. Zudem ist die Verfügbarkeit entsprechender Geräte in der Tiermedizin bis dato sehr eingeschränkt.

Liquoruntersuchung

Zum Ausschluss entzündlicher nicht-kompressiver Myelopathien.

Die Liquoruntersuchung bei degenerativer Myelopathie ist unauffällig – außer leichtgradig erhöhtem Protein bei einigen Patienten (unspezifisch).

Muskelbiopsie

Bei Patienten mit degenerativer Myelopathie ergeben sich sekundäre Veränderungen in der Muskulatur der Hintergliedmaßen, die durch sog. Gruppenbildung beider Fasertypen I und II charakterisiert sind.

Theoretisch zeigen sich solche Befunde aber auch bei Patienten mit anderen proximal-peripheren oder spinalen Erkrankungen. Momentan liegen noch nicht genügend Fälle und Erfahrungen an pathologisch verifizierten Patienten vor.

Gentest

Der Gentest wurde von einer interdisziplinären Arbeitsgruppe in den USA entwickelt und wird mittlerweile auch von einem deutschen Labor (Laboklin®, Bad Kissingen) angeboten (Quelle: Awano T et al. Genome-wide association analysis reveals a SOD1 mutation in canine degenerative myelopathy that resembles amyotrophic lateral sclerosis. Proc Natl Acad Sci USA 2009;106(8): 2794-9. Im Internet: www.pnas.org/cgi/doi/10.1073/pnas.0812297106).

In der o. g. Studie mit Pembroke Welsh Corgis wurde das veränderte Gen bei 38 an degenerativer Myelopathie erkrankten Hunden identifiziert und anschließend bei 4 weiteren Rassen (Boxer, Rhodesian Ridgeback, Deutscher Schäferhund und Chesapeake Bay Retriever) untersucht. Dabei kam es zu einer 100 %igen Übereinstimmung von klinisch erkrankten Hunden und Hunden mit Mutation im SOD1-Gen.

Die Studie weist aber einige Schwachpunkte auf:

1.Die Diagnose einer degenerativen Myelopathie wurde nur bei einem geringen Prozentsatz histopathologisch gesichert. Bei den meisten Hunden erfolgte entweder eine weiterführende Diagnostik zum Ausschluss kompressiver Rückenmarksläsionen (MRT, Myelografie) oder gar nur eine klinische Beurteilung.

2.Liquor wurde nicht untersucht.

3.Auch 34 % der klinisch gesunden Hunde wiesen die gleiche Mutation auf, allerdings könnte es sich dabei auch um eine späte Penetranz handeln (Hunde erleben das Ausbrechen der Krankheit nicht mehr).

4.Es liegen keine Informationen über andere Hunderassen vor, bei denen vielleicht andere oder multiple Mutationen zu einer Rückenmarksdegeneration führen.

Um die Situation beim Deutschen Schäferhund in der englischen Population zu untersuchen, wurde von einer Londoner Arbeitsgruppe selbst ein SOD1-Gentest entwickelt (gleiche Mutation wie beim Pembroke Welsh Corgi). Alle Patienten mit klinischem Verdacht auf degenerative Myelopathie (typische Anamnese, Klinik und Ausschluss einer kompressiven Läsion im MRT) zeigten die Mutation, während alle gesunden Kontrollhunde keine Mutation aufwiesen. Allerdings hatten 42 % der Hunde mit Ataxie oder Paraparese ohne DM-Verdacht ebenfalls Mutationen. 

Schlussfolgerungen für die Anwendung des Gentests 

  • Falsch positive und falsch negative Testergebnisse sind bei gelähmten Patienten möglich.
  • Es ist nicht bekannt, ob der Test auch auf andere Hunderassen übertragen werden kann.
  • Letztlich ergibt sich nur die Information, ob der Hund Träger ist oder nicht; andere Myelopathien können jederzeit parallel ablaufen.
  • Interpretation deshalb nur im Zusammenhang mit weiterführender Diagnostik.
  • Es sind weitere Studien nötig, bei denen die Diagnose histopathologisch gesichert sein sollte (betroffene Patienten und Kontrollhunde).  

Prophylaktische Untersuchung bei Zuchttieren

Sofern der Gentest ausgereift sein wird, könnte z. B. beim Deutschen Schäferhund bereits im Welpenalter, d. h. möglichst vor dem Verkauf des Hundes getestet werden. Dies wäre optimal, da sich die Erkrankung sonst erst im fortgeschrittenen Alter zeigen würde, aus zuchthygienischer Sicht natürlich viel zu spät. 

Aktuelle diagnostische Vorgehensweise bei Patienten mit Ataxie oder Paraparese 

  • Klinisch neurologische Untersuchung
  • Ausschlussdiagnostik wie bisher mittels bildgebender Verfahren, evtl. auch Elektrodiagnostik. Muskelbiopsie und Liquoruntersuchung.
  • Gentest: Sind diese Untersuchungen alle negativ und die Klinik passt, wäre bei den 5 in der Studie untersuchten Rassen ein positiver Gentest (nahezu) beweisend für das Vorliegen einer degenerativen Myelopathie, ein negativer Gentest würde eine degenerative Myelopathie (nahezu) ausschließen.  

Cave: Ein positiver Gentest ohne die weiterführende Diagnostik ist völlig ohne Aussagekraft, da der momentan gelähmte Hund trotzdem eine (oder mehrere) andere Erkrankung(en) des Rückenmarks oder der Wirbelsäule haben kann! 

Fazit Diagnostik 

Die Diagnose einer degenerativen Myelopathie bleibt weiterhin eine Herausforderung. Der Gentest sollte wenn überhaupt momentan nur bei bestimmten Rassen eingesetzt und vorsichtig interpretiert werden.  

Differenzialdiagnose

Degenerative lumbosakrale Stenose (DLSS) 

Die Kompression der Nerven der Cauda equina ist beim deutschen Schäferhund ebenfalls eine sehr häufige Wirbelsäulenerkrankung bei mittelalten bis älteren Hunden. Bereits durch die klinisch-neurologische Untersuchung können die beiden Krankheiten aber sehr gut voneinander unterschieden werden. 

Tabelle: Klinisch-neurologische Untersuchung bei degenerativer Myelopathie und degenerativer lumbosakraler Stenose (Cauda equina).

  DM  DLSS 
spinale Reflexe der Hintergliedmaße

gekreuzter Flexor-Extensor-Reflex
normal bis gesteigert

ja
herabgesetzt bis auf Patellarsehnenreflex

nein
Analreflex, Bulbo-/Vulvourethral  normal herabgesetzt
Rutentonus  normal herabgesetzt 
neurogene Muskelatrophie nein  ja 
Schmerzen nein ja, lumbosakral 
Lokalisation OMN hinten (Th3–L3) UMN hinten (L4–S3)

 

Die unterschiedlichen klinisch-neurologischen Defizite beider Erkrankungen ergeben sich aus der unterschiedlichen klinischen Lokalisation:

  • Bei der DM sind die Leitungsbahnen im Rückenmark betroffen.
  • Bei der DLSS sind die peripheren Nerven der Cauda equina betroffen.  

Cave: Beide Erkrankungen können auch simultan vorliegen!  

Therapie 

Wird degenerative Myelopathie vermutet, ist keine ursächliche medikamentöse Therapie bekannt. Bei akuten Krankheitsschüben kann kurzfristig Kortison versucht werden. Schmerzmittel sind wirkungslos, Vitamine ebenfalls. 

Auf Dauer essenziell ist ausreichende Bewegung, um die Koordination zu verbessern und die Muskulatur zu erhalten. Im Frühstadium wären dies z. B. Traben, Joggen und Schwimmen. 

Bei stärkeren Lähmungserscheinungen muss unbedingt Physiotherapie durchgeführt werden. Nach einer Studie aus der Schweiz kann dadurch eine wesentlich längere Überlebenszeit auch bei stärker betroffenen Patienten erzielt werden. 

Prognose 

In der Fachliteratur sind Überlebenszeiten von maximal 2 Jahren nach Auftreten der ersten Symptome beschrieben. Nach eigenen Erfahrungen können auch 3 Jahre erreicht werden, die meisten Patienten werden aber innerhalb des ersten Jahres euthanasiert. 

Die Prognose ist letztlich infaust. 


Quelle: Kai Rentmeister, Die degenerative Myelopathie des Hundes – Was kann der Gentest? aus kleintier konkret 2011; 14(1): 8-12; DOI: 10.1055/s-0030-1267789; Literatur/Referenzen: s. Quelle; © Enke Verlag in Georg Thieme Verlag KG

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