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Die Paläoernährung und ihr Stellenwert für die Prävention und Behandlung chronischer Krankheiten

Innerhalb der evolutionären Medizin ergibt sich ein Erklärungsmodell aus der unvollständigen Anpassung des Menschen an die moderne Lebensweise, was sich auch in dem Ausdruck „Zivilisationskrankheiten“ widerspiegelt. Der Ernährung wird in diesem Kontext eine kritische Rolle eingeräumt. Diesem Ansatz folgend wurde der Begriff der „Paläoernährung“ bzw. „Steinzeiternährung“ als eine Ernährungsweise eingeführt, welche sich an dem Nahrungsverhalten des Menschen während der Altsteinzeit ausrichtet, die chronologisch den Großteil der menschlichen Existenz ausmacht.

Weltweit erleben wir derzeit einen rasanten Anstieg sog. chronischer nicht übertragbarer Krankheiten (NÜK) mit schwer abzuschätzenden, jedoch sicher extrem belastenden Kosten für unsere Gesundheits- und Sozialsysteme. Krankheitsbilder wie Akne, Alzheimer, Autoimmunerkrankungen, Bluthochdruck, Diabetes Typ 2, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs, nicht alkoholische Fettleber und Übergewicht werden den NÜK zugeordnet. Mit dem Begriff „Zivilisationskrankheiten“ wird oftmals ausgedrückt, dass diese NÜK eng mit Wohlstand und dem westlichen Lebensstil verbunden sind und bei „unzivilisierten“, noch ursprünglich lebenden Völkern kaum Verbreitung haben bzw. hatten.

Der gleichzeitige Anstieg so vieler diverser Krankheitsbilder resultiert in einer Vielzahl von Erklärungsversuchen, die meist aber nur einen Teil der NÜK abdecken. Falsche Ernährung wird häufig als Hypothese in Betracht gezogen, ein zunächst logisch erscheinender Ansatz. Jedoch liegt allzu oft der Fokus auf einzelnen Nahrungsbestandteilen was selbst bei Betrachtung einzelner Krankheitsbilder wie Krebs zu keinem schlüssigen oder einheitlichen Gesamtkonzept führt.

Ein verstärkt diskutierter Ansatz ist der Versuch, die Ätiologie der NÜK auf eine fehlende Anpassung des Menschen auf seine sich zu schnell verändernde Umwelt zurückzuführen. Dieser Ansatz erscheint deshalb attraktiv, da er die Vielzahl der mit NÜK assoziierten Krankheitsbilder mit einer einzelnen Hypothese erfasst. In Bezug auf die Ernährung wurde postuliert, dass es eine zu weitgehende Abweichung von einer ursprünglichen Ernährungsweise, der sog. Paläo- oder Steinzeiternährung, sei, die mitverantwortlich für die steigende Inzidenz der NÜK ist. Aufgrund des derzeitigen Interesses an der Steinzeiternährung sowohl in der Forschung als auch in den Medien, soll hier ein Überblick über die wissenschaftlichen Hintergründe dieser Ernährungsform und ihren potenziellen Nutzen in der Verhinderung und Behandlung chronischer NÜK gegeben werden.

Die Mismatch-Hypothese der modernen Ernährung

Geprägt vom Konzept der evolutionären Medizin, glaubten bereits in den 1960er-Jahren einige Autoren eine gemeinsame Ursache für diverse Zivilisationskrankheiten in einer Fehlanpassung („Mismatch“) an moderne Nahrungsmittel bzw. an ein Überangebot an Kohlenhydraten zu erkennen. Der Begriff der Steinzeiternährung wurde 1975 von Walter Voegtlin in seinem gleichnamigen Buch eingeführt, wissenschaftlich 1985 unter dem Begriff Paläoernährung (Paleolithic nutrition) erstmalig von Eaton und Konner im New England Journal of Medicine beschrieben, von Loren Cordain aufgegriffen und in den vergangenen 2 Jahrzehnten durch viele andere wesentlich weiterentwickelt. Nach Erscheinen des ersten Cordain-Buches „The Paleo Diet“ im Jahre 2002 hat sich aus der ursprünglich diätischen Sichtweise eine auch auf andere Bereiche des täglichen Lebens – wie Sport, Stress oder Schlaf – ausgeweitete Paläobewegung ergeben. Der Begriff selbst ist dem Paläolithikum, der Altsteinzeit, entnommen, welche unseren entwicklungsgeschichtlichen Zeitraum beginnend vor ca. 2,5 Mio. Jahren bis etwa 10 000 vor Christus absteckt und mit dem Anfang der Agrarrevolution endet. Während dieser Zeit waren Menschen im Wesentlichen als Jäger und Sammler organisiert. Die Paläobewegung geht von einer bestmöglichen genetischen Anpassung der Menschen an diese Ernährungsweise aus.

Hinweise auf eine unvollständige Anpassung an evolutionär neuere Ernährungsweisen finden sich in den anthropologisch-forensisch-medizinischen Untersuchungen ehemaliger Jäger-Sammler-Gesellschaften, bei denen diese mit landwirtschaftlichen Völkern verglichen wurden. Es ist eine grundsätzliche Beobachtung, dass mit der Einführung moderner Lebensmittel wie bspw. Getreide oder Zucker Mangelerscheinungen und chronische Erkrankungen zunahmen. Phänotypische Äußerungen sind ein schlechterer Zahnstatus, mehr Knochendeformationen auf dem Boden schlechterer Mineralisierung und vermehrter Entzündung sowie eine verminderte Körperlänge. Unter dem starken Selektionsdruck einer Ernährung mit neuen, schwer verdaulichen Lebensmitteln kam es zwar zu einzelnen genetischen Anpassungen wie zur Vermehrung der Kopien des AMY1-Gens, welches das stärkespaltende Enzym Amylase im Speichel kodiert, oder einer dominanten Mutation in der Promoterregion des LCT-Gens bei Europäern, welche zur Expression des Enzyms Laktase bis ins Erwachsenenalter führte. Allerdings stellen solch schnelle Anpassungen vermutlich eher die Ausnahme als die Regel dar, da neue Mutationen mit einer höheren Wahrscheinlichkeit rezessiv vererbt werden. Im Wesentlichen scheint unser Genom identisch mit dem unseren frühen menschlichen Vorfahren und weist seit 120 000 v. Chr. keine bedeutsamen Änderungen mehr auf. Gemessen an den Millionen Jahren genetischer Entwicklung unseres Erbgutes beträgt die Zeitspanne seit Einführung moderner Nahrungsmittel wie bspw. Getreide (≈ 10 000 Jahre) nur ca. 0,5 %.

Ein häufiges Argument gegen die Mismatch-Hypothese ist die geringe mittlere Lebenserwartung von Jäger-und-Sammler-Gesellschaften, die damit evtl. nicht alt genug wurden, um altersbedingte NÜK zu entwickeln. Hier kann nur kurz auf dieses Argument eingegangen werden; eine ausführliche Diskussion findet sich bei Eaton et al. und Carrera-Bastos et al.

Die geringe Lebenserwartung bei Jäger-und-Sammler-Gesellschaften beruht v. a. auf einer hohen Kindersterblichkeit und Faktoren, die im Zusammenhang mit fehlender medizinischer Versorgung stehen. So errechneten Gurven und Kaplan, dass über zwei Drittel der Jäger und Sammler, welche es auf 15 Lebensjahre geschafft haben, ein Alter von 45 Jahren erreichen und die weitere Lebenserwartung von im Mittel noch ca. 20 – 25 Jahre beträgt. Degenerative Erkrankungen stellten mit insgesamt 9 % bzw. 28 % bei den über 60-Jährigen eine seltene Todesursache dar und scheinen eher unspezifischer Natur zu sein. Dies ist im Einklang mit den Beobachtungen zu bekannten Risikofaktoren für moderne chronische NÜK: Jäger und Sammler weisen im Allgemeinen niedrige Triglyzeridspiegel, einen niedrigen Körperfettgehalt, keinen Bluthochdruck und eine gute maximale Sauerstoffaufnahme auf. Insbesondere die Seltenheit von Herzinfarkten und Krebs wurde in der medizinisch-ethnografischen Literatur oftmals herausgestellt, obwohl Gegendarstellungen existieren, bei denen jedoch nicht klar ist, ob die untersuchte Population bereits längeren Kontakt mit dem westlichen Lebensstil hatte. Insgesamt sprechen die Daten nicht für eine Verhinderung, jedoch eine Verzögerung der Pathogenese chronisch degenerativer Erkrankungen, was gerade wegen der hohen Lebenserwartung heutiger Industrienationen von Bedeutung sein könnte.

Lesen Sie hier den gesamten Beitrag: Die Paläoernährung und ihr Stellenwert für die Prävention und Behandlung chronischer Krankheiten

Aus der Zeitschrift: Aktuelle Ernährungsmedizin 06/2016

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